Die Sünderin von Siena
verbunden. Vor ihm drei gleich hohe Häuflein weißer Körner. Bartolo stand daneben und starrte sie an.
»Was in aller Welt tut ihr da?«, entfuhr es Gemma. »Was sind das für seltsame Spiele, die du mit dem Jungen treibst?«
»Er lässt mich Salz kosten«, erwiderte Mario an Bartolos Stelle. »Meine Augen sind verbunden, damit ich mich ganz auf Riechen, Tasten und Schmecken konzentrieren kann. Und ich weiß auch schon die Antwort, zio Bartolo: Das in der Mitte muss das Beste sein.«
»Richtig erkannt, mein Junge. Das ist das kostbare fleur de sel , das wertvollste aller Speisesalze. Eines Tages werde ich dir zeigen, wie man es gewinnt und welche umfangreichen Vorsichtsmaßnahmen man unbedingt treffen muss, damit es auch weiterhin so rein und unverfälscht bleibt.«
Der Kaufmann klang müde.
»Du kannst dein Tuch jetzt wieder abnehmen. Wir machen später weiter. Luca wird inzwischen mit dir die neu eingetroffenen Stoffsorten durchgehen.«
Er wartete, bis der Junge nach nebenan gegangen war, dann schloss er die Tür.
»Nun«, sagte er. »Welche Geschichte ist es dieses Mal?«
»Keine Geschichte, Vater. Ich wollte bloß nicht, dass du dir Sorgen machst.«
»Indem du jetzt mir davonläufst, Gemma, meinst du etwa das?«
»Ich kam aus dem Hospital, und da hat Lavinia einen Streit …«
Seine ungeduldige Geste brachte sie zum Schweigen, und plötzlich fühlte Gemma sich wieder klein, geschwätzig und dumm.
»Lavinia hat mir natürlich bereits alles erzählt. Ich weiß also Bescheid.« Er fixierte die Salzhäuflein auf dem Tisch geradezu, anstatt nur einmal seine Tochter anzusehen.
»Aber du weißt noch nicht, wo ich jetzt lebe.« Gemma bemühte sich, ruhig und freundlich zu bleiben.
»Auch das weiß ich.«
»Vom wem?«
»Kannst du dir das nicht denken?« Sie wollte auffahren, er aber redete rasch weiter. »Sei froh, dass ein Lupo di Cecco es beim Beobachten belässt. Er könnte dich ebenso gut zwingen, zurückzukommen. Das Gesetz wäre ganz auf seiner Seite.«
Wildes, verzweifeltes Lachen stieg in ihr empor, ein Lachen, das auch in Schluchzen umschlagen hätte können. Sie zwang sich, es runterzuschlucken.
»Ich bin nicht seine Sklavin, das hast du selber einmal gesagt.«
»Das gibt dir noch lange nicht das Recht, alle Abmachungen zu brechen.«
»Was hab ich denn schon groß gebrochen?« Gemma spürte, wie sie langsam wütend wurde. »Lavinia hasst mich mehr denn je und zeigt es mir jeden Tag unvermissverständlich. Die kleinen Schwestern kommen auch ohne mich ganz gut zurecht, und du, du scheinst ohnehin vergessen zu haben, dass ich überhaupt existiere! Soll ich unter diesen Umständen weiterhin zu Hause herumsitzen und darauf warten, dass die Zeit vergeht? Während ich anderweitig gebraucht werde, dringend gebraucht sogar.«
»Lavinia sagte, im Hospital …«
»Vergiss das Hospital! Ich helfe einer Witwe, die sechs Waisenkinder aus Santa Maria della Scala aufgenommen hat und sie in ihrem Haus großzieht. Drei von ihnen sind bereits krank, und wenn wir nicht bald etwas dagegen unternehmen, erwischt es womöglich auch die anderen. Und jetzt schau mir in die Augen und sag mir, ob ich etwas Falsches mache!«
Bartolo folgte ihrer Aufforderung, doch sein Blick war matt.
»Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust«, sagte er schließlich und begann, seine Hände zu reiben, als friere er. »Obwohl ich insgeheim gehofft hatte, die Ehe würde dich im Lauf der Zeit reifer machen.«
»Vater, ich …«
»Und langsam wärst du alt genug, wie ich finde, um auch die Konsequenzen deiner Handlungen zu tragen. Mein Schutz für dich endet an der Schwelle dieses Ladens und beginnt an der Schwelle meines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mehr kann ich für dich zurzeit nicht tun, Tochter.«
Die Abfuhr klang so gleichgültig, dass es Gemma die Sprache verschlug. Der Vater, ihr Held, ihr großer Beschützer – und jetzt diese kargen, mitleidlosen Worte!
Von nebenan hörte sie Lucas tiefe Stimme und das fröhliche, helle Lachen Marios. Etwas Bitteres schoss in ihr empor.
»Ersatz hast du ja bereits«, sagte sie. »Und glücklicherweise hab auch ich eine neue Familie gefunden, die mich liebt und schätzt.«
Es war kein Trost für sie, dass er bei ihren Worten wie getroffen in sich zusammensackte. Am liebsten hätte Gemma sie sofort wieder zurückgenommen.
Doch dafür war es nun zu spät.
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Jetzt hatte das Fresko von ihm Besitz ergriffen, noch mehr als die Sehnen und Muskeln, die er in
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