Die Sünderin von Siena
stark diese gebieterische Stimme die Männer und Frauen erfasst hatte. Manche schienen zu taumeln, als hätten sie zu viel Wein getrunken, andere senkten den Kopf, wieder andere schlugen sich an die Brust.
»… er aber, er bedenkt nicht, dass die Augen des All mächtigen zehntausendmal heller sind als die Sonne. Dass sie alle Wege des Menschen sehen und die geheimsten Winkel durchdringen. Hört mich an, meine geliebten Schwestern und Brüdern im Herrn: Wer wären wir armselige Sterbliche, um uns diesen ewigen Augen Gottes zu entziehen?«
Die Pause kam so unvermittelt, dass es kaum auszuhalten war. Der Prediger dehnte sie aus, kunstvoll und genüsslich, bis es den Lauschenden fast wie eine Erlösung erschien, als seine Stimme erneut ertönte.
»Nur die, die Reue zeigen, können Erlösung finden. Nehmt euch ein Beispiel am Chor meiner kleinen Engel! Sie alle waren Sünder, doch nun sind sie geläutert – und damit frei. Nur wer von euch es ihnen gleichtut, wird eines Tages in die Gnade des göttlichen Erbarmens kommen …«
Gemma wollte mehr sehen, deshalb drängelte sie sich nach vorn. Der große Platz vor San Domenico war schwarz vor Menschen, aber sie gab nicht auf, bis vor ihr schließlich nur noch ein paar Kinder standen, die die Sicht nicht mehr versperrten.
Der padre stand auf der obersten Stufe vor dem Bronzeportal, die Arme weit ausgebreitet, als sei er wie einst Jesus ans Kreuz geschlagen. Um ihn herum in weitem Halbkreis die Schar seiner jugendlichen Anhänger, heute ausnahmslos in weißgraue Kutten gehüllt, die eher wie eine Uniform als ein mönchisches Habit wirkten. Einfache Stricke dienten als Gürtel. Die Häupter bedeckten Kapuzen, die die Heranwachsenden tief ins Gesicht gezogen hatten. Die einheitliche Aufmachung hatte alle Unterschiede zwischen ihnen verwischt. Unmöglich, jetzt noch Einzelheiten oder bestimmte Charakteristika auszumachen! Gemma gelang es nicht einmal, den kleinen Taschendieb von neulich wiederzuerkennen.
Bruder Bernardo löste sich aus seiner Starre.
»Das könnte der erste Schritt zur Errettung eurer Seele sein.« Jetzt war sein Tonfall tief und einschmeichelnd. »Wer seine Sünden bereut, Tand und Torheit der Welt hinter sich lässt und mir, dem Diener des Herrn nachfolgt, der …«
»Ich, padre , ich!« Mit diesem Schrei sank ein schlanker dunkelhaariger Junge vor dem Prediger auf die Knie.
Der beugte sich zu ihm hinunter, berührte seinen Kopf und half ihm dann, wieder aufzustehen.
»Wie lautet dein Name, mein Sohn?«, fragte er.
»Giovanni«, stieß der Junge unter Tränen hervor. »Giovanni di Nero.«
»Und du gelobst von ganzem Herzen, all deine Sünden zu bereuen?«
»Ich will Euer Engel sein«, brachte der Junge schluchzend hervor. »Lasst mich ab jetzt einer Eurer Engel sein – für immer!«
Die Menge begann zu murmeln, schließlich fingen die ersten zu klatschen an. Es wurde gelacht und gesprochen. Die feierliche Anspannung, die noch eben geherrscht hatte, war zerstoben. Mehr und mehr Bewegung kam in die Leute.
Gemma sah noch, wie der Junge von einigen der Engel seitlich weggeführt wurde, dann wurde sie rücksichtslos beiseite gedrängt. Der Prediger verkündete den Segen und schlug das Kreuzzeichen. Plötzlich war er im Kirchenschiff verschwunden.
Gemma lief sofort los, um der Menschenmenge vor aus zu sein, die nun wieder zurück in die obere Stadt strömen würde. Glücklicherweise kannte sie seit Kindheitstagen unzählige Abkürzungen durch die verschiedenen Gassen, und so gelang es ihr, einigermaßen schnell voranzukommen.
Außer Atem erreichte sie schließlich den Laden des Vaters. Sie stürmte sofort hinein, damit sie es sich nicht noch einmal anders überlegen konnte, wurde jedoch gleich an der Schwelle von Luca abgefangen, der mit bedeutungsvoller Miene einen Finger auf seine breiten Lippen legte.
»Wie schön, Euch zu sehen, Monna Gemma«, flüsterte er. »Doch ich fürchte, Ihr kommt leider etwas ungelegen.« Sein kantiges Kinn sackte nach unten, als sei er dafür persönlich verantwortlich.
»Weshalb? Hat Vater etwa einen wichtigen Kunden?«
Kopfschütteln.
»Dann vielleicht anderen Besuch?«
Jetzt zog er die buschigen Brauen hoch, und eine wilde Ahnung durchfuhr Gemma. Er würde es doch sicherlich nicht wagen, den Vater …
Sie schob den alten Diener energisch zur Seite, durchquerte den Verkaufsraum und riss die Türe auf. Aber anstatt Lupo, wie sie befürchtet hatte, saß lediglich Mario am Tisch, die Augen mit einem Tuch
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