Die Sünderin von Siena
letzten Augenblicke der Ruhe nicht nehmen. Da seine Kehle wie ausgetrocknet war, alle Wassereimer sich jedoch als leer erwiesen, schlüpfte er in seine Malerkleider und machte sich auf den Weg zum nahen Brunnen. Die Gasse lag noch in tiefem Schlaf, aber im Osten zeigte sich bereits rötliches Licht. Leise summte Matteo vor sich hin. Wie warm sein Körper sich anfühlte, lebendig und geschmeidig bis in die Fingerspitzen! Heute würde er sicherlich so inspiriert malen wie schon lange nicht mehr.
Er hatte den Brunnen fast erreicht, als ein leises Wimmern ihn innehalten ließ. Da lag etwas zusammengekrümmt auf dem Boden, das man auf den ersten Blick für ein Lumpenbündel hätte halten können. Doch es war kein Bündel, denn es bewegte sich.
Matteo kniete nieder und erschrak.
Ein Kind! Der kleine Junge aus Mamma Linas Schar, den er noch gestern so fröhlich hatte spielen sehen. Wie war noch einmal sein Name gewesen? Wie hatten die anderen Kinder ihn gerufen? Jede Erinnerung daran war wie weggeblasen.
Die Haut des Kleinen glühte. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er starrte Matteo an, schien ihn jedoch nicht zu sehen.
»Was ist geschehen?« Der Maler spürte, wie die altbekannte Angst in ihm hochkroch. »Bist du krank?«
Ja, das Kind war sehr krank, womöglich sogar in größter Gefahr. Was aber konnte er tun, um ihm schnell zu helfen?
Immer verzweifelter rang der Junge nach Atem. Dazwischen schnellte seine Zunge heraus, mit der er versuchte, die aufgerissenen Lippen zu befeuchten. Matteo stützte behutsam den Kopf des Kleinen, strich ihm über die schweißnassen Haare.
»Durst!«, stieß der Junge schließlich mühsam hervor. »Durst! Wollte nicht essen, aber er hat … Ich musste … alles so sa… Wasser!« Sein Kopf fiel kraftlos zur Seite.
»Ja, trinken sollst du, das ist eine gute Idee! Warte, ich bin sofort wieder bei dir!«
Matteo bettete den Kopf des Kindes vorsichtig auf das Pflaster, füllte einen Becher mit dem saubersten Wasser aus dem ersten Bassin und wollte es dem Kleinen einflößen, als er plötzlich stutzte.
Etwas war anders als zuvor.
Er legte sein Ohr an die Brust des Kindes. Kein Herzschlag mehr, nicht ein Ringen oder Keuchen. Alles still. Viel zu still. Genauso wie damals bei Giuseppe, seinem geliebten Sohn. Er und seine Frau hatten schon gehofft, der Junge habe die Nacht überstanden, die Rechnung aber ohne den Todesengel gemacht. Noch vor Sonnenaufgang war er in majestätischer Schrecklichkeit erschienen, um Giuseppe für immer in sein dunkles Reich zu holen.
Tränenblind schaute Matteo nach Osten, wo soeben die ersten Strahlen den Horizont färbten. Das Kind in seinen Armen war tot.
Fünf
T euerste Brüder in Christo, dem süßen Jesus! Gedenket mir an
die tiefe Liebe, die unser lieber Erlöser empfand, da er sich unse retwegen dem Tod hingab, um uns damit das Leben der Gnade wiederzuschenken …« Caterina hielt inne. »Hast du ›schenken‹?«, fragte sie mit besorgtem Blick.
»Hab ich.« Gemmas Antwort klang gepresst.
»Gut. Dann kann ich ja weiterdiktieren.« Sie musste nur einen Augenblick überlegen, schon begannen die Worte erneut wie aus einer unsichtbaren Quelle zu sprudeln:
»Vergesst dabei jedoch eines niemals, auch wenn wir es durch die Arbeit unseres lieben Vaters zu Ansehen und bescheidenem Wohl stand gebracht haben und ihr jetzt sogar als Ratsherrn über das Wohl Sienas zu entscheiden habt: Wir waren immer populani, sind also Leute aus dem einfachen Volk, die neben der Gottesliebe stets ihre Arme, vor allem jedoch ihren scharfen Verstand zu gebrau chen wussten …«
Der Griffel in Gemmas Hand schien zu glühen, so flog er über die Wachstafel. Sie konnte nicht jedes Wort, das Caterina von sich gab, ganz ausschreiben, sondern musste sich immer wieder mit provisorischen Abkürzungen behelfen, die sie später hoffentlich noch würde entziffern können. Zum Glück hatte sie vor der Zeit ihrer Ehe im väterlichen Kontor regelmäßig Schreibarbeiten über nommen, sonst wäre sie jetzt hoffnungslos verloren gewesen. Aber es war auch so schwierig genug, denn inzwischen prasselten Caterinas Sätze einem Sturzbach gleich auf sie nieder. Bis jetzt war es ihr halbwegs gelungen, die Fassung zu bewahren, obwohl sie sich innerlich so traurig und zerschlagen fühlte, dass sie den Weg zum Färberhaus nur mit größter Anstrengung hatte bewerkstelligen können. Doch von Zeile zu Zeile wuchsen ihre Zweifel, ob sie auch die Kraft besitzen würde, bis zum Ende
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