Die Sünderin von Siena
durchzuhalten.
»Deshalb hütet euch vor jenem Antichristen, welcher derzeit in den Gassen und auf den Plätzen unserer Stadt seine gotteslästerli chen Worte ausgießt. Meine geliebten Brüder in Christo, dieser Ber nardo, wie er sich nennt, ist kein Prediger des Herrn, sondern ledig lich ein Scharlatan, der uns durch seine verderbte Rede ins Unglück stürzen will. Ihm geht es nicht um Gottesfurcht noch um Reue oder Buße; das Einzige, was ihn interessiert, ist Macht. Folglich müsst ihr alles nur Mögliche dafür tun, damit er sie niemals erlangen wird. Aber seid weder furchtsam noch ängstlich, sondern zeigt Mut! Wenn wir demütig um die Hilfe des Allmächtigen flehen, wird uns das reine, für uns Sündiger vergossene Blut des Erlösers auch vor diesem Ausbund der Hölle erretten …«
»Träumst du?« Caterinas Stimme riss Gemma aus ihren Gedanken. »Dann kann ich nur hoffen, dass es wenigstens schöne Träume sind!«
Der Druck in der Kehle wurde immer schlimmer, und auf einmal gab es kein Halten mehr. Tränen liefen Gemma über das Gesicht.
Jetzt wirkte Caterina erschrocken. »Was ist mir dir?«, fragte sie. »Ist etwas geschehen?«
»Das fragst du noch? Wo doch ganz Fontebranda von nichts anderem redet!«
Aufgerissene, erstaunte Augen, die Gemma plötzlich zornig machten. Wenn man sich bei lebendigem Leib in einer Zelle vergrub wie diese junge Frau – wie sollte man dann erfahren, was draußen in der Welt vor sich ging?
Es wunderte sie ohnehin, dass Caterina sich um jenen Bernardo und sein dreistes Treiben scherte und sogar ihre Brüder im Rat vor ihm warnen wollte. Sie dagegen konnte nur noch an den reglosen kleinen Körper in Matteos Armen denken, der den Zauber ihrer Liebesnacht abrupt beendet hatte.
»Unser kleiner Mauro ist tot«, fuhr sie schluchzend fort, »eines von Mamma Linas Waisenkindern. Nacht für Nacht kam er in mein Bett. Das war unser Geheimnis, etwas, das wir keiner Menschenseele verraten haben. Manchmal wurde es dann sehr eng, weil er am liebsten quer lag, sodass ich mich kaum noch rühren konnte. Und jetzt werde ich nie wieder Platz für ihn machen können.«
»Der Würgeengel der Kinder?«, fragte Caterina. »Hat er auch ihn zu sich geholt?«
»Mauro hatte niemals Halsbräune! Nein, Matteo … ich meine, Messer Minucci hat ihn im Morgengrauen gefunden, unten am großen Brunnen, da lag er schon im Todeskampf. Kurz darauf ist er vor seinen Augen gestorben.«
»Manchmal erleiden sie einen Rückfall«, gab Caterina zu bedenken. »Oftmals gerade dann, wenn man denkt, sie hätten bereits alles gut überstanden. Doch seine Seele ist jetzt bei Gott. Was könnte es Schöneres geben für ein Menschenkind?«
»Verstehst du denn gar nichts?« Gemma sprang auf, so aufgebracht war sie. Mit dem Ärmel wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Mauro wollte leben, jetzt, da er endlich wieder eine Mamma und viele neue Geschwister gefunden hatte.«
»Es steht uns nicht zu, Gottes unergründliche Ratschlüsse begreifen zu wollen. Das irdische Ende wird uns Menschen stets ein Geheimnis bleiben. Aber was spielt das für eine Rolle? Wo es doch ohnehin nur der Übergang zu unserem ewigen Leben in Gott ist.«
»Ein fröhliches, gesundes Kind, das am liebsten Tag und Nacht übermütig herumgetobt hätte! Wie kann ein gnädiger Gott ein so junges Leben jäh beenden? Und welchen Sinn soll solch ein nutzloses Sterben haben? Kannst du mir das bitte erklären, Caterina?«
Ruhelos begann Gemma, in der Küche umherzulaufen, die Lapa für die Zeit des Diktats freigemacht hatte. Überall standen einfachste Gerätschaften, Töpfe, Teller, Reiben, Kasserollen, alles vielfach gebraucht und dementsprechend abgenutzt. Reiche Gönner hatten der Färberfamilie angeboten, für ein würdevolleres Domizil zu sorgen, doch Lapa und ihr Mann Jacopo hatten alle Umzugsangebote abgelehnt. Die Familie Benincasa war entschlossen zu bleiben, wo sie schon seit Generationen gelebt hatte.
Caterinas Augen folgten Gemma unentwegt.
»Ich höre dich Gott anklagen«, sagte sie. »Und dabei ist deine Stimme dunkel vor Schmerz. Könnte es sein, dass du dir selber etwas vorzuwerfen hast?«
Gemma starrte sie verblüfft an.
»Willst du darüber reden, Gemma?«, fragte Caterina.
»Ich war nicht da gestern Nacht«, brach es aus Gemma heraus. » Das ist es, wenn du es schon so genau wissen willst. Nur ein einziges Mal in all der Zeit, seit ich bei ihnen bin, war ich fort. Vielleicht ist Mauro ja aufgewacht, hat nach mir gesucht und
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