Die Sünderin von Siena
Aufzeichnungen zur Hand. Es war einfacher, Caterinas drängende Sätze zu rekapitulieren, als sie befürchtet hatte. Pergament, Federn und Tinte standen in ausreichender Menge bereit.
Sie tauchte den Gänsekiel ein und begann zu schreiben.
Nach einer Weile hörte sie Lapa hereinkommen, die den Kuchen aus dem Ofen holte. Plötzlich stand ein warmes, duftendes Stück panforte neben ihr. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, da spürte sie Lapas schwere Hand auf ihrem Scheitel.
»Du musst essen, Mädchen«, sagte sie. »Wem wäre schon damit gedient, wenn du deine Kraft und all deinen Mut verlierst? Damit machst du den armen Kleinen auch nicht wieder lebendig!«
Die Geste war so schlicht und mütterlich zugleich, dass Gemma sich geborgen fühlte wie schon seit Langem nicht mehr. Trotzdem wurden ihre Augen erneut feucht. Und während Lapas Enkel sich in der hintersten Küchenecke lautstark um den Rest des Mandelkuchens balgten, nahm der Brief an die Gebrüder Benincasa langsam Gestalt an.
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Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster auf das Fresko und ließ das Gesicht des Vaters aufleuchten. Überwältigende Freude war darin zu lesen, aber auch ebenso tiefe Ungläubigkeit darüber, dass er den verlorenen Sohn tatsächlich wieder in seinen Armen halten konnte. Nardo Barna beobachtete, wie der Blick der Frau jenseits des Tisches abermals zu dem Wandgemälde glitt, beinahe, als würde sie von dem Bild Trost und Stärkung erwarten.
Oder wich sie lediglich seinem Blick aus? Er beschloss, seine Befragung noch strenger zu gestalten.
»Der Junge war gerade mal vier Jahre«, fuhr er fort. »Wie konnte es da angehen, dass er …«
»Mauro war fast fünf«, unterbrach ihn Mamma Lina. »Auch wenn er für sein Alter klein und zart war und daher vielleicht jünger wirkte. Aber er war aufgeweckt und konnte sogar schon die ersten Buchstaben schreiben.«
Eine steile Falte durchschnitt Barnas Stirn.
»Ob nun vier oder fünf, in diesem Alter gehört ein Kind nachts an einen einzigen Ort – nämlich in sein Bett.« Sein Tonfall verriet die wachsende Verärgerung. »Ihr nennt Euch Mamma Lina und wollt ein Haus mit Kindern führen, die alle unter der Obhut von Santa Maria della Scala stehen. Doch was seid Ihr für eine Waisenmutter, wenn Ihr nicht einmal dafür zu sorgen wisst?«
Lina senkte den Kopf. »Glaubt Ihr nicht, ich hätte mich das selber nicht schon tausendmal gefragt?«, sagte sie leise. »Ich hab ihn natürlich ins Bett gebracht. Danach haben wir noch zusammen gebetet wie jeden Abend, vielleicht etwas kürzer als sonst, denn Mauro war todmüde, weil er tagsüber so hemmungslos herumgetobt hatte. Als ich ihn verließ, war er bereits eingeschlafen.«
»Doch irgendwann muss er ja aufgestanden sein und das Haus verlassen haben. Und davon willst du nichts bemerkt haben? Keine Schritte? Keine ungewöhnlichen Geräusche? Nicht einmal das Öffnen und Schließen der Tür?«, schaltete sich nun Celestina ein, die Lina gegenüber neben dem Rektor saß. »Dann musst du ja wie eine Tote geschlafen haben!«
Mamma Lina schüttelte den Kopf.
»Für gewöhnlich hab ich einen leichten Schlaf«, sagte sie. »Aber da war nichts zu hören, ich bin mir sicher. Und die Kinder können sich ebenfalls nicht erinnern, etwas wahrgenommen zu haben. Ich hab sie alle gefragt.«
»Vielleicht konntest du nichts hören, weil du stockbetrunken warst«, sagte Celestina lauernd. »Du wärst nicht die erste unserer Waisenmütter, die sich einen solchen Vorwurf gefallen lassen müsste. Die Wahrheit, Lina! Weitere Lügen würden deine Situation nur verschlimmern.«
»Wie kommt Ihr dazu, so etwas zu behaupten, mad re ?« Linas Empörung wirkte echt. »Ich lüge nicht. Jedes meiner Worte ist wahr! Außerdem wird Wein in meinem Haus stets großzügig mit Wasser verdünnt. Und gestern Abend habe ich nicht einmal zwei Becher getrunken.«
»Wie viele Kinder hattet Ihr denn in ihre Obhut gegeben?« Enea di Nero wandte sich direkt an den Rektor, als befände Lina sich gar nicht im Raum. Er schwitzte, schien sich äußerst unbehaglich zu fühlen. Sein markantes Gesicht war von roten Flecken verunstaltet.
»Sechs. Drei Jungen und drei Mädchen unterschiedlichen Alters«, erwiderte Barna, nachdem er in seinen Unterlagen geblättert hatte. Die Anwesenheit des Richters zu seiner Rechten schien ihm willkommen zu sein. »Wir achten nach Möglichkeit darauf, dass jeder neue Haushalt mit Waisen einer echten Familie ähnlich ist, und geben uns daher Mühe bei der
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