Die Sünderin von Siena
geheimnisvollen Zeichnungen, die du mir schon lange zeigen wolltest? Bekomme ich die endlich einmal zu Gesicht?«
Nevio wurde blass, dann errötete er heftig. »Hab sie leider vergessen«, murmelte er. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Warum nur kann ich dir das nicht glauben?«, sagte Matteo. »Also, her damit – nur Mut!«
Nevio schlich zu der Ecke, in der er seine Sachen aufbewahrte.
»Katzen sind ein schwieriges Motiv«, sagte er, während er mit ein paar Blättern zurückkehrte. »Denn sie tun niemals, was du willst. Da hast du es mit deinen D amen schon leichter, die einfach brav sitzen bleiben, wenn du es befiehlst.«
Matteo tat, als hätte er den zweiten Satz nicht gehört, und konzentrierte sich auf Nevios Kreideskizzen.
»Für den Anfang nicht einmal so schlecht«, sagte er beim Umblättern. »Die Bewegung hier zum Beispiel hast du schon mal sehr schön eingefangen. Das dagegen« – sein Finger deutete auf die nächste Zeichnung – »wirkt noch ziemlich steif. Als ob Nachbars Mieze beim Springen einen Stock verschluckt hätte. Das muss weicher werden, viel lebendiger.« Er griff nach einem Kreidestummel, zog ein paar neue Linien. »Siehst du, was ich meine?«
Nevio nickte voller Begeisterung. »Ich bin also nicht ganz und gar unbegabt?«, fragte er.
»Du hast ein scharfes Auge«, sagte Matteo, »das ist eine gute Voraussetzung. Außerdem kannst du Kritik einstecken, ohne beleidigt zu sein, und bemühst dich zudem, aus deinen Fehlern zu lernen, zwei weitere entscheidende Punkte. Was allerdings dein lausiges Gedächtnis betrifft …«
»Ich hab die Eier doch mitgebracht!«, rief der Junge. »Auch wenn du dir kaum vorstellen kannst, welche Überredungskünste mich das gekostet hat.«
»Ornela grollt mir also noch immer?« Matteo kniete sich neben den Rahmen, um die Grundierung von allen Seiten zu überprüfen.
»Du hast Mutter sehr gekränkt«, sagte der Junge. »Wo mit eigentlich? Mir wollte sie nichts verraten, aber ich hab sie kaum je zuvor derart nachtragend erlebt.«
»Das ist eine Angelegenheit zwischen ihr und mir«, sagte Matteo. »Aber deine Mutter fehlt mir, das kannst du ihr gelegentlich ausrichten.« Sein Blick glitt über die Unordnung im Raum, die Ornelas lange Abwesenheit aufs Deutlichste widerspiegelte.
»Das wird nicht viel bewirken. Sie wird nicht wiederkommen, bis du dich nicht ausdrücklich bei ihr entschuldigt hast. Ich kenne sie genau. Sie kann stur sein bis zum Jüngsten Tag.«
Nevio begann im Leimtiegel zu rühren. Dann jedoch zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich.
»Du hast ja mit den Skizzen schon begonnen!«, rief er, ließ Leim Leim sein und lief zu Matteo. »Aber die neue Madonna ist ja unsere alte!«
»Es kann für mich keine andere Madonna geben«, sagte Matteo und ließ das Blatt sinken. »Für mich wird sie stets Gemmas Gesicht tragen. Was immer auch geschieht!«
»Du meinst die Sache mit dem Kleinen von gegenüber?« Die Stimme des Jungen verriet sein Mitgefühl. »Die Leute auf der Straße reden von nichts anderem. Das ganze Viertel ist außer sich, und die Mütter lassen ihre kleinen Kinder nicht mehr alleine aus dem Haus.«
»Warum hab ausgerechnet ich ihn finden müssen?« Matteos Hände vollführten einen unvollendeten Kreis. »Und ihm dann nicht einmal helfen können! Aber woher sollte ich auch wissen, dass es so schlecht um ihn bestellt ist?«
»Er war noch nicht tot?«
»Leichenblass war er im Gesicht, matt wie ein welkes
Blatt, und er hat über Durst geklagt. Dabei war er so schwer zu verstehen! Und als ich ihm dann Wasser einflößen wollte – da ist er einfach in meinen Armen gestorben.«
»Er war eines ihrer Kinder, nicht wahr?« Nevios leimbeschmierter Zeigefinger deutete auf die Skizzen mit der Madonna.
»Nein, Mamma Lina führt den Haushalt mit den Waisen. Gemma wohnt dort nur und geht ihr zur Hand. Du kannst dir vorstellen, wie entsetzt sie war, als ich ihr den toten Kleinen bringen musste.«
»Was soll nun geschehen?«, fragte der Junge.
»Woher soll ich das wissen? Ich hatte ja bislang in der ganzen Aufregung nicht einmal Gelegenheit, ausführlicher mit Gemma zu reden!«
Herrisches Klopfen an der Tür. Ein Nicken von Matteo genügte, und schon setzte der Junge sich in Bewegung.
»Ich bin nicht zu sprechen«, rief Matteo ihm hinterher. »Für niemanden!«
»Das wage ich zu bezweifeln.« Celestina, im strengen Habit des Hospitals, ließ sich nicht aufhalten. »Du kannst froh sein, dass ich gekommen bin, Matteo, und
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