Die Sünderin von Siena
»Bislang ist mir jedenfalls noch niemand begegnet, der dieser Ansicht gewesen wäre.«
Der Stoff färbte sich rasch dunkel, aber es kam Gemma doch so vor, als lasse die Blutung allmählich nach.
»Danke«, flüsterte die Frau. »Ich dachte eben, ich müsse sterben: diese Verachtung in seinem Blick und dann seine Hand, die sich gegen die eigene Mutter gerichtet hat …«
»Euer Sohn gehört zu Bernardos Engeln?«, fragte Gemma.
Die Frau schien sich langsam zu erholen. In ihr langes, mageres Gesicht kehrte eine Spur von Farbe zurück.
»Er hat ihn verdorben«, sagte sie in bitterem Ton. »Der schwarze Prediger hat mir meinen Giovanni gestohlen.«
»Seid nicht undankbar!«, sagte Gemma. »Euer Junge lebt immerhin noch, es gibt also noch Hoffnung. Wir dagegen haben heute Morgen für immer ein Kind verloren.«
Jetzt waren die Augen der Frau ernst und fragend auf Gemma gerichtet.
»Der kleine Tote von Fontebranda«, fuhr Gemma erklärend fort. »Ihr habt sicherlich schon von ihm gehört.« Sie löste vorsichtig den Stoff von der Wunde. »Das kann eine ordentliche Narbe geben, wenn Ihr Pech habt«, sagte sie.
»Wen kümmert das? Mein Mann sieht mich schon lange nicht mehr an.« Überraschend zupackende Finger schlossen sich um Gemmas Handgelenk. »Warum tut Ihr das für mich? Ihr kennt mich doch gar nicht!«
»Hätte ich Euch vielleicht hilflos liegen lassen sollen?« Gemma strich der Frau das blutverklebte Haar aus der Stirn. Sie gehörte gewiss nicht zu den Armen, das Kleid und die Art, wie sie redete, verrieten, dass sie zu den wohlhabenden Leuten gehörte. »Ich werde jetzt versuchen, Euch aufzuhelfen, um Euch nach Hause zu bringen. Dort solltet Ihr aber auf alle Fälle einen Medicus rufen lassen.«
»Das wird nicht nötig sein … Ich frage einen Freund, der sich auskennt. Savo wird mir helfen.«
Trotz ihrer Magerkeit war die Verletzte schwer auf die Beine zu bekommen, doch schließlich gelang es. Sie stand unsicher, schwankte leicht, und Gemma befahl ihr, sich auf sie zu stützen.
»Wir gehen langsam«, sagte sie. »Schritt für Schritt. Und wenn es Euch zu viel wird, bleiben wir stehen und ruhen uns aus. Einverstanden?«
Die Frau nickte, offenbar zu geschwächt für weitere Einwände.
»Jetzt muss ich nur noch wissen, wohin«, sagte Gemma.
»Zum Haus des Richters di Nero in der via delle Vergine. Und ich bin seine Frau Bice.«
❦
»Geht das nicht wesentlich besser?«
Nevio ließ den Pinsel entmutigt sinken und beugte sich tiefer über die beiden Böcke, auf denen der Spannrahmen ruhte.
»Die Masse ist doch rahmig und gut streichfähig.« Seine Unterlippe bebte unmerklich. »Also alles genau so, wie du es mir gesagt hast.«
»Aber du hast sie viel zu dick aufgetragen, Junge … Das ist doch nur die Grundierung, nicht das Bild selber. Sollen meine Farben in deinem Pfusch absaufen wie ein Haufen verzweifelter Schiffbrüchiger in rauer See?«
»Kann man das später nicht ausgleichen?« Jetzt zitterte der ganze Mund des Jungen. »Mit irgendeinem Trick vielleicht?«
»Unmöglich!« Matteo packte die aufgespannte Leinwand und legte sie beiseite. »Da lässt sich nichts machen. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen! Die nächste Leinwand, die du zum Glück schon eingespannt hast, wird zeigen, was du kapiert hast. Und merk dir dabei gleich eines, bevor ich meine Geduld verliere: Wir haben nichts zu verschenken, auch wenn der Bischof uns dieses Mal einen anständigen Vorschuss bezahlt hat, verstanden? Also geh künftig gefälligst sorgfältiger mit unseren Materialien um!«
Nevio stand da mit hängenden Schultern.
Matteo gab zu der Kreide im hohen Gefäß noch einen ordentlichen Schuss Leimwasser und rührte kräftig um, bis die Masse vollkommen klumpenfrei war.
»Dünn auftragen«, sagte er, während er den Pinsel benetzte und mit sicheren Strichen die neue Leinwand grundierte, »das ist das Allerwichtigste. Nur so kannst du später luftige Töne und eine schöne Mattigkeit der Farben erzielen. Wenn es nicht gleich beim ersten Auftrag deckt, so mach dir darüber keinen Kopf! Dann streichst du die Leinwand – selbstredend ebenso dünn – ein zweites und sogar ein drittes Mal. Natürlich erst, wenn du sicher sein kannst, dass die vorhergehende Schicht gründlich getrocknet ist.«
»Das werde ich niemals lernen!«, sagte Nevio seufzend.
»Und ob du das wirst, und zwar schnell, das kann ich dir garantieren! Ich hab nämlich ganz andere Dinge mit dir vor. Was ist eigentlich mit jenen
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