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Die Sünderin von Siena

Die Sünderin von Siena

Titel: Die Sünderin von Siena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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und zu achten, der einem wertvoll erscheint. Das wirst auch du noch lernen, mein ungestümes Mädchen!«
    Jetzt waren die Gefühle und Ängste jener schier endlosen Folgezeit plötzlich wieder in Gemma lebendig. Ja, sie war tatsächlich nahe daran gewesen, verrückt zu werden, aus Trauer und aus Scham, und ihr Körper erinnerte sich noch deutlich an jene Bleischwere. Nacht für Nacht hatte sie die Madonna um Rat und Hilfe angefleht, um irgendein Zeichen, das ihr helfen sollte, diesen unerträglichen Zustand zu beenden.
    Und dann, eines Tages, hatte sie plötzlich den Mut gefunden, Lupo wegzustoßen und den Weg in die Freiheit zu wagen. Angesichts der schlanken Mauersegler, die hoch über ihrem Kopf ihre tollkühnen Flüge vollführten, wurde Gemma mit einem Mal bewusst, wie viel sich seitdem für sie verändert hatte.
    Sollte Lupo die Schätze aus dem Besitz der Santinis doch bis in alle Ewigkeit behalten! Solange noch ein Funken Leben in ihr war, würde sie niemals wieder in sein düsteres Haus zurückkehren, das schwor sie sich in diesem Augenblick. Und der nächste Schritt stand auch schon fest: Sie musste mit dem Vater reden, ihre Scham beiseiteschieben und sich ihm endlich frei offenbaren, damit Bartolo einsah, warum es nur diese und keine andere Entscheidung für sie geben konnte.
    Innerlich um einiges zuversichtlicher, setzte sie ihren Weg fort. Mehr und mehr Menschen kamen aus ihren Häusern; inzwischen schien es, als sei halb Siena auf den Beinen. Wohin strömten sie nur alle? Schon nach ein paar Schritten erhielt Gemma eine Antwort auf ihre Fragen. Sie hörte den Prediger bereits, noch bevor sie ihn sah.
    »Wünsch dir nicht schöne Kinder, wenn sie nichts taugen, und freu dich nicht über Söhne, sie könnten missraten sein!« Die geifernde Stimme Bernardos erschien Gemma an diesem strahlenden Sommertag wie eine Gotteslästerung. »Mögen sie auch zahlreich sein, freu dich nicht über sie, wenn sie keine Gottesfurcht besitzen.«
    Neben Gemma hatte sich eine magere Frau in einem aufwendig verzierten grünen Gewand gedrängt, die so heftig atmete, als schnüre ihr etwas die Luft ab. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Prediger an, der von der Schar seiner Engel in ihren schmutzigen grauweißen Kutten umringt war.
    »Verlass dich nicht auf ihre Lebensdauer, und setz kein Vertrauen in ihre Zukunft …«
    »Soll das heißen, er will sie alle sterben lassen?« Schmale Augen unter schön gewölbten Brauen sahen Gemma flehentlich an. »Er hat meinen Jungen in seiner Gewalt, versteht Ihr, meinen einzigen Sohn, Gott steh mir bei!«
    »…besser als tausend ist einer, der Gottes Willen tut. Besser kinderlos sterben, als schlimme Nachkommen zu haben …«
    Einige klatschten begeistert, doch in der Zuhörerschaft begann sich auch heftiger Widerspruch zu regen.
    »Kinder sind das Salz der Erde!«, rief ein Mann mit grauem Bart. »Sie allein sind unsere Zukunft. Wer bist du, Prediger, um so zu sprechen?«
    »Und was ist mit dem armen Kleinen, den sie drunten in Fontebranda gefunden haben?«, schrie eine Frau, die nur noch einen Schneidezahn hatte. »Gehört der deiner Meinung nach etwa auch zu jenen, die es nicht verdient haben zu leben?«
    Padre Bernardo drehte sich langsam in ihre Richtung.
    »Mir war bereits vielerorts zu Ohren gekommen, dass diese Stadt verderbt sein soll.« Seine Stimme glich einem Donner, so grollend, so mächtig ertönte sie. »Doch ich wusste nicht, dass Siena mit Fug und Recht einen neuen Namen verdient hat – und zwar den schrecklichen Namen Sodom!«
    Jetzt begannen viele der Lauschenden zu murren.
    »Das wagt ein Fremder zu behaupten, jemand, der niemals länger hier gelebt hat …«
    »Hört nicht auf ihn, wenn er uns und unsere Kinder verunglimpft …«
    Der Prediger übertönte sie alle.
    »Begreift ihr denn nicht, wer dieses Leben auf dem Gewissen hat? Seid ihr zu blind und zu taub, um zu sehen und zu hören? Es sind jene, die gegen Anstand und Moral verstoßen, jene, die huren und sich schamlos der Wollust des Fleisches hingeben, als sei Jesus Christus niemals für uns Sünder am Kreuz gestorben.«
    Jetzt war es auf dem Platz totenstill geworden. Kein Einziger wagte mehr zu widersprechen.
    »Denn die schlimmste aller Sünden ist die verfluchte Sünde gegen die Natur. Und noch um vieles verabscheuungswürdiger, wenn sie sich gegen ein unschuldiges Kind richtet.« Es war, als sei der Prediger plötzlich ein ganzes Stück gewachsen. Seine dunklen Augen sprühten.
    »Willst du damit

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