Die Sünderin von Siena
weiteren Gefährdungen sicher.«
»Er hat recht«, sagte der Domherr, als sie später in kleinen Gruppen den Stadtpalast verließen, um keinen Verdacht zu wecken. »Bice sollte in der Tat vorsichtiger sein. Kannst du meine geschätzte Base nicht dazu überreden?«
»Das stellst du dir zu einfach vor! Seit Giovanni diesem Prediger anhängt, lässt sie sich von mir gar nichts mehr sagen«, erwiderte der Richter. »Manchmal glaube ich, ihre Krankheit frisst sich unaufhaltsam in ihr Gehirn.« Er verzog den Mund. »Und dann befürchte ich jedes Mal, dass ich auch bald dran sein werde.«
»Man wird ja auf der Stelle schwermütig, wenn man dir zuhört!«, rief der Apotheker. »Der Junge kommt sicher bald nach Hause zurück. Jugendsünden haben es nun mal an sich, dass sie zeitlich begrenzt sind, da macht dein Sohn keine Ausnahme. Und Bice hab ich bislang doch noch immer wieder auf die Beine bekommen. Außerdem läuft es doch gar nicht schlecht für uns. Wir müssen einfach nur abwarten und weiter zusehen. La Salamandra …«
Er hielt erschrocken inne, weil dieses Mal er es war, der das verbotene Wort ausgesprochen hatte.
»Den ersten kräftigen Schuss vor den Bug hat sie jedenfalls bereits abbekommen«, fuhr er leiser fort. »Unser Freund Barna hat sie an der Angel. Und wer einmal an der zappelt, kommt so schnell nicht wieder los.«
»Noch aber bewegt sie sich frei in der Stadt und kann dabei jede Menge Ärger anrichten«, gab der Richter zu bedenken. »Sie ist so glatt, als hätte sie sich von Kopf bis Fuß in Seife gewälzt. Nicht ein einziges Mal hat sie mich während der gesamten Vernehmung angesehen. Dabei muss sie doch innerlich vor Angst halb vergangen sein!«
»Aber der Kleine von Fontebranda …«
Der Apotheker ließ Domenico nicht ausreden: »In schwierigen Zeiten wird es immer Opfer geben«, sagte er. »So lautet nun mal das ungeschriebene Gesetz – und daran lässt sich nichts ändern.«
»Warum nicht lieber gleich sie, statt des unschuldigen Kindes?«
»Was willst du, mein Freund? Du wirst sie niemals ändern! Sie ist und bleibt ein Reptil«, sagte Marconi. »Ein seelenloses Krötenwesen mit kaltem Blut, das sich nur erhitzt, wenn man das Tier ins Feuer wirft. Und genau das, meine Freunde, wird sie nur allzu bald erleben.«
❦
Noch nie zuvor waren sie beim Essen so still gewesen. Keines der Kinder hatte seinen Teller geleert, obwohl Mamma Lina sich mit der kräftigen Hühnersuppe ganz besondere Mühe gegeben hatte.
»Ich muss immer an Mauro denken.« Lelio war der Erste, der das bedrückte Schweigen brach. Seine schmutzigen Finger zerkrümelten das Brot zu winzigen Bröckchen.
»Ich auch«, rief Angelina. »Lieber, lieber Mauro!« Sie legte ihre Stirn in sorgenvolle Falten. »Jetzt bist du nicht mehr da!«
»Im Himmel gibt es bestimmt jeden Tag Hühnersuppe. Und noch viel besseres Essen, wie Braten und Mandelmus«, sagte Raffi. »Und davon kriegt er, so viel er nur will.«
Mia schossen Tränen in die Augen. »Wenn man tot ist, braucht man gar nichts mehr zu essen«, sagte sie schluchzend. »Das weiß ich ganz genau. Dann kommt man nämlich in einen Sarg und verfault ganz langsam. Und die Würmer essen dich auf.«
Mamma Lina legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Mauro muss keine Angst vor Würmern haben«, sagte sie. »Er ist bei Gott und wird ein kleiner Engel. Ihr könnt euch das so vorstellen, dass er auf einer Wolke sitzt und euch beschützt. Jeden Einzelnen von euch – Cata, Angelina, Mia, Raffi und Lelio. Ihr alle habt jetzt einen Engel zum Bruder. Daran solltet ihr denken! Und nicht mehr weinen.«
Cata starrte sie mit fettglänzendem Mund an. »Dann kommt jetzt auch nich mehr der swarze Mann zu Mauro«, sagte sie. »Oder doch?«
»Welcher Mann?«, fragte Gemma.
»Der Mann in der Nacht.« Catas plumpe kleine Finger fuhren in den Teller und fischten sich mit erstaunlichem Geschick ein Stück Karotte heraus. Sie begann genüsslich zu kauen.
»Der Mann in der Nacht?«, wiederholte Gemma. »Was meinst du genau damit?«
»Lass sie doch!« Linas Stimme klang scharf. »Sonst fängt sie nur wieder zu weinen an und hört nicht mehr auf.«
»Du hast einen Mann gesehen, Cata?« Gemma ließ sich nicht abbringen. »Wann genau? Bei Mauro? In der Nacht, bevor er gestorben ist? Einen schwarzen Mann?«
Das Mädchen nickte.
»Swarzer Umhang«, sagte sie. »Ist mit Mauro gegangen. Hab ich gesehen.«
»Sie hat nur wieder schlecht geträumt«, sagte Mamma Lina. »Und jetzt wird ihr die ganze
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