Die Sünderin
Leukämie hatte sie überstanden. Nach fünf Jahren, sagten die Ärzte, könne man getrost von einer vollständigen Heilung sprechen.
Mutter führte die Genesung natürlich auf unsere Gebete zurück, weil sogar die Ärzte sagten, es sei ein Wunder. Dabei betete ich gar nicht mehr. Ich kniete vor dem Kreuz und dachte mir Geschichten für Magdalena aus.
Einmal erzählte ich ihr, ich hätte jetzt eine richtige Freundin. Da war ich schon fast dreizehn und hätte mir bequem eine Freundin kaufen können. Ich hatte achthundert Mark im Schuppen und wusste, dass Magdalena sich in dem Punkt geirrt hatte. Für Geld konnte man alles haben.
Sie fand das mit der Freundin aufregend. Ich musste ihr das Mädchen beschreiben. Jede Einzelheit wollte sie wissen. Wie groß ist sie? Ist sie dick oder dünn? Ist sie hübsch? Redet ihr auch über Jungs? Hat sie sich schon mal in einen verliebt? Meinst du, du schaffst es, dass sie mal hier am Haus vorbeigeht? Dann könnte ich sie sehen.
Da saßen wir an einem Nachmittag am Fenster im Schlafzimmer. Von dort aus konnte man auf die Straße sehen. Magdalena saß auf dem Bett, und ich passte am Fenster auf. Als ein wirklich hübsches Mädchen die Straße hinunterkam, holte ich Magdalena ans Fenster. Ich hielt sie mit einem Arm fest und klopfte an die Scheibe. Das Mädchen wurde aufmerksam und schaute zu uns hoch. Es schüttelte den Kopf, wahrscheinlich hielt es uns für blöd.
Und ich erzählte Magdalena, meine Freundin wüsste genau,wie vorsichtig wir wegen Mutter sein müssten. Nur deshalb hätte sie den Kopf geschüttelt. Magdalena glaubte mir alles.
Als ich einmal den halben Nachmittag mit Einkäufen vertrödelt hatte, erzählte ich ihr, meine Freundin hätte mich in die Eisdiele eingeladen. Sie hätte mir einen Erdbeerbecher mit Schlagsahne spendiert. Und dann hätte sie mir von einem Jungen vorgeschwärmt, in den sie sehr verliebt sei. Der Junge wüsste aber nichts davon.
Am nächsten Tag erzählte ich ihr, wir hätten einen Brief an den Jungen geschrieben. Und meine Freundin hätte mich gebeten, dem Jungen den Brief zuzustecken. Lügen! Lügen! Lügen! Manchmal kam es mir so vor, als ob mein Leben eine einzige Lüge sei.
8. Kapitel
Allmählich wurde Rudolf Grovian wütend – nicht auf sie, auf sich. Die Warnung ihrer Tante – dann macht Cora die Tür zu – schoss ihm durch den Sinn. Verdammt, er hatte es falsch angepackt. Aber es musste doch möglich sein, den Fuß noch einmal in die Tür zu drücken. Er probierte eine Weile herum, nur fand er den richtigen Ton nicht. Mit Margret legte er nur noch ein paar zusätzliche Riegel vor die Tür.
Auf die Fragen, in welcher Hinsicht er von ihrer Tante belogen worden sei und was Margret Rosch gestohlen haben könnte, dass man im schlimmsten Albtraum nicht darauf käme, antwortete sie: «Machen Sie Ihre Arbeit allein. Sie werden dafür bezahlt, ich nicht.»
Er kam auf den Kernpunkt zurück. Wenn es Johnny gab, war er identisch mit Georg Frankenberg? Darauf gab sie ihm keine Antwort. So sah er sich genötigt, noch einmal zu drohen, obwohl er das auf gar keinen Fall hatte tun wollen. «Frau Bender, dann werde ich wohl doch mit Ihrem Vater reden müssen.»
Sie lächelte. «Probieren Sie es lieber bei meiner Mutter, die hat die Wahrheit mit drei Pfund Bibelseiten gefressen. Aber sorgen Sie dafür, dass Ihre Knie gut gepolstert sind.»
Dann nippte sie an ihrem Kaffee, stellte die Tasse mit einer endgültigen Bewegung zurück und schaute zu ihm auf. «Das war’s wohl, oder? Darf ich mich umziehen, bevor Sie mich dem Haftrichter vorführen? Meine Sachen sind verschwitzt. Ich habe darin gelegen. Und ich hatte sie gestern schon an. Die Zähne möchte ich mir auch gerne putzen.»
In dem Moment tat sie ihm unendlich Leid. Sie war immer auf sich gestellt gewesen. Wie sollte sie ausgerechnet ihmglauben, wenn er ihr Hilfe anbot? Davon abgesehen, welche Hilfe konnte er ihr bieten? Etliche Jahre hinter Gittern. Mit so viel Neutralität, wie er aufbringen konnte, sagte er: «Ihre Sachen sind noch nicht hier, Frau Bender. Wir hatten Ihren Mann gestern gebeten, etwas herzubringen. Bisher ist er nicht erschienen.»
Sie zuckte gleichgültig mir den Achseln. «Er wird auch nicht erscheinen. Ich hatte doch gesagt, Margret soll es tun.»
Eine halbe Stunde später traf Margret ein. In der Zeit hatte er sich noch dreimal bemüht, Auskunft zu erhalten. Wer war das zweite Mädchen? Beim ersten Mal versuchte er es mit ruhiger Stimme. Sie schlug vor:
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