Die Sünderin
«Von mir erfährt deine Mutter kein Sterbenswörtchen.»
Damals begriff ich, was es bedeutet, Geld zu haben. Alle waren plötzlich freundlich zu mir, alle, die vorher gelacht oder mich nicht beachtet hatten. Als ich zwölf wurde, waren es mindestens drei Mark in der Woche von Mutter. Dabei bekam ich zu dem Zeitpunkt auch schon regelmäßig Geld von Vater.
Manchmal wunderte es mich, dass Mutter das Geld nicht vermisste. Ich weiß nicht, ob sie mit der Zeit nachlässig geworden war oder ob ich sie überzeugt hatte, ich sei der frömmste Mensch auf der Welt. Vielleicht hatte ich sie überzeugt. Ich gab ihr Recht, egal welchen Unsinn sie verzapfte. Ich half ihr im Haushalt, spülte freiwillig das Geschirr ab, wischte Staub oder holte die Wäsche von der Leine, damit sie sich um Magdalena kümmern konnte. Das tat ich immer, wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte. Und das hatte ich oft, weil ich alles hatte und Magdalena nur selten etwas abgeben konnte.
Ich verzichtete auf das Abendessen, wenn ich mich am Nachmittag so mit Süßigkeiten voll gestopft hatte, dass ich keinen Bissen mehr runterbrachte. Zu Mutter sagte ich: «Ich habe bei der Einkehr heute Mittag eine Begierde entdeckt. Ich will jetzt Buße tun.» Mutter fand so viel Einsicht natürlich toll.
Um die Einkäufe riss ich mich jedes Mal. Ich sagte: «Lass mich das machen, Mutter. Ich bin jung und stark. Es macht mir nichts aus, schwer zu tragen. Und du brauchst deine Kraft für Magdalena.»
Und dann sagte ich noch, dass ich lieber zum Aldi ginge, weil dort alles billiger sei. «Man darf die Händler doch nicht dazu verleiten, sich zu bereichern.» Und Mutter fand, sie hätte an mir eine große Hilfe und ich hätte viel vom Erlöser gelernt. Manchmal sagte sie, sie sei stolz auf mich.
Und wenn ich Magdalena erzählte, welchen Bären ich Mutter aufgebunden hatte, meinte sie: «Man muss sie verarschen, wo man nur kann. Blödheit muss bestraft werden.»
Magdalena dachte, dass ich den weiteren Weg in die Stadt nur gehe, damit ich ihr erzählen konnte, ob irgendwo etwas los gewesen sei. Warum ich tatsächlich lieber zum Aldi ging, habe ich ihr nie gesagt. Weil man dort leichter klauen konnte und Woolworth in der Nähe war.
Gut die Hälfte von dem, was ich nach Hause trug, war nicht bezahlt. Beim Aldi klaute ich Süßigkeiten und ein paar von den Lebensmitteln, die ich für Mutter besorgen sollte. Bei Woolworth nahm ich Haarspangen, Lippenstifte und anderen Kleinkram, den ich leicht in die Jackentasche stecken, aber selbst gar nicht brauchen konnte. Ich verkaufte die Sachen auf dem Schulhof.
Ich konnte so gut klauen, das glaubt man nicht. Ich sah nett und harmlos aus, mir traute niemand etwas Böses zu. Viele Leute wussten, wer ich war. Die Frau, die meist bei Aldi an der Kasse saß, wohnte in unserer Straße, für die war ich nur das arme Kind. Und bei Woolworth war eine der Verkäuferinnen eine gute Freundin von Grit Adigar, da war es genauso leicht.
Es hat nie einer etwas bemerkt. Auch nicht die, die mir die Sachen abkauften. Denen musste ich nur sagen: «Meine Tante hat mir wieder ein Päckchen geschickt. Aber was soll ich mit dem Kram? Meine Mutter hängt mir das Kreuz aus, wenn sie mich mit Lippenstift sieht.» Da freuten sie sich alle, weil sie die Sachen von mir für die Hälfte bekamen.
Ich hatte damals eine Menge Geld zur Verfügung. Mein Taschengeld von Vater, die Griffe in Mutters Portemonnaie und meine Einkünfte vom Schulhof. Und ich gab kaum etwas aus. Ich hortete alles, das Geld ebenso wie Naschzeug. Oft hatte ich so viel süßes Zeug im Schuppen, dass ich es nicht alleine essen konnte. Im Sommer schmolz mir die Schokolade unter den alten Kartoffelsäcken. Danach nahm ich häufig etwas mit zur Schule und verschenkte es an andere Kinder. Dann war ich ihre beste Freundin, und sie stritten sich, wer in der Pause mit mir spielen durfte.
Und ich spielte unentwegt mit Magdalenas Leben. Es war wie mit der Leiter. Einmal ist man mutig, man geht drunter durch, und nichts passiert. Und dann tut man es immer wieder. Irgendwann ist man überzeugt, dass es gar kein Pechgibt, das einen verfolgen könnte. Aber das Schicksal kann man nicht austricksen wie eine Mutter, die im Kopf nicht richtig ist. Irgendwann, wenn niemand mehr damit rechnet, schlägt es zu.
Es sah lange Zeit so aus, als hätte ich keinen Einfluss auf Magdalenas Zustand. Egal, was ich tat oder unterließ, ihr ging es gleichbleibend gut oder schlecht. Es kam darauf an, wie man es sah. Die
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