Die Sünderin
merkte sie ja nicht.
An dem Tag hätte ich ihr von dem Markstück erzählen können. Verraten hätte sie mich nicht. Aber wir blieben bei Mutter in der Küche. Während Mutter den Tisch abräumte und das Geschirr spülte, erzählte ich eine erfundene Geschichte. Als Mutter mit dem Abwasch fertig war, war Magdalena erschöpft. Mutter brachte sie hinauf. Aber als Vater am späten Nachmittag von der Arbeit kam, war sie bereits wieder unten.
Und am nächsten Tag tat ich es wieder – sogar schlimmer. Bevor ich zur Schule ging, nahm ich Geld aus Mutters Portemonnaie – zwei Markstücke. In der Pause verließ ich den Schulhof, allerdings hatte ich die Lehrerin um Erlaubnis gefragt. Ob ich gehen dürfe und fragen, ob die Kerzen schon geliefert seien. Die Lehrerin sagte: «Natürlich, Cora, lauf nur.»
Und ich lief zum Laden, kaufte mir ein Eis und eine Tafel Schokolade. Das Eis aß ich sofort. Die Schokolade versteckte ich in meiner Jackentasche. Mittags brachte ich sie in den Schuppen und legte sie in die hinterste Ecke unter die alten Kartoffelsäcke.
Als ich dann auf die Küchentür zuging, hatte ich Herzklopfen. Doch bevor ich die Klinke drückte, hörte ich Magdalenareden. Wie am Tag zuvor saß sie im Sessel, hatte einen Teller mit Kartoffelbrei und einem weich gekochten Ei vor sich. Es ging ihr gut. Nachdem sie eine Stunde geruht und ich gebetet und die Schularbeiten gemacht hatte, wollte sie unbedingt mit mir spielen. Nicht «Ich sehe was, was du nicht siehst» oder das Wunschspiel, ein richtiges Spiel.
Mutter schickte mich zu Grit Adigar, das «Mensch ärgere dich nicht» zu holen. Bevor ich mit dem Karton unter dem Arm zurück in unsere Küche ging, lief ich rasch in den Schuppen und brach ein Stück von der Schokolade ab. Ich legte es mir nur auf die Zunge und ließ es langsam schmelzen. Wenn ich darauf gekaut hätte, wäre es Mutter aufgefallen.
Magdalena beobachtete mich, während ich die Figuren auf das Spielfeld stellte. Sie sah, dass ich etwas im Mund hatte, aber sie sagte nichts. Erst später, als Mutter hinausging, fragte sie: «Was hattest du da eben?»
«Schokolade.»
Magdalena dachte, ich hätte sie von Grit bekommen. «Wenn du das Spiel zurückbringst, bringst du mir auch ein Stück mit? Aber pass auf, dass das Papier dranbleibt. Du musst es mir unters Kopfkissen legen. Ich esse es, wenn Mutter mich ins Bett gebracht hat. Ich passe auf, dass sie es nicht sieht.»
Mutter wollte nicht, dass sie Süßigkeiten aß, berief sich dabei allerdings nicht auf den Erlöser wie bei mir, sondern auf den Zahnarzt. Es war ein großes Problem mit Magdalenas Zähnen. Sie waren zu weich. Einmal hatten sie ihr in der Klinik einen Backenzahn ziehen müssen, der ein Loch hatte. Da hatten sie ihr eine Spritze gegeben. Und Magdalena hatte sie nicht vertragen. Die Ärzte hatten zu Mutter gesagt, so etwas dürfe nicht wieder vorkommen. Deshalb war Mutter auch so hinterher mit dem Zähneputzen.
Ich wusste das. Und ich wusste auch, dass man nach demZähneputzen nichts Süßes mehr essen darf, weil es sonst Löcher gibt. Um es ganz konkret auszudrücken, ich wusste, dass ich ihr schadete – richtig schadete, wenn ich ihr ein Stück Schokolade unter das Kopfkissen legte. Ich nickte trotzdem.
Magdalena griff nach dem Würfel und sagte: «Dann mal los! Nimm keine Rücksicht auf mich, Cora. Ich kann gut verlieren.»
Nimm keine Rücksicht auf mich, Cora! Den Satz von ihr höre ich heute noch. Er wurde mir zum Lebensmotto. Ich nahm auf nichts und niemanden mehr Rücksicht, belog die Lehrerin und die anderen Kinder in der Schule, sogar meinen Vater. Ich klaute, was sich nur klauen ließ. Mindestens zweimal in der Woche nahm ich Geld aus Mutters Portemonnaie. Ich kaufte mir Süßigkeiten, versteckte sie im Schuppen und holte mir etwas, wann immer ich Lust hatte. Wenn sich die Gelegenheit bot, brachte ich auch für Magdalena etwas ins Haus und legte es ihr unter das Kopfkissen. Wenn meine Vorräte verzehrt waren, nahm ich eben wieder Geld.
Zuerst hatte ich Angst, dass die Leute aus dem kleinen Laden Mutter etwas erzählten. Sie kaufte auch da ein. Und eigentlich hätten sie sich wundern müssen, dass ich plötzlich über so viel Geld verfügte. Um allem vorzubeugen, erzählte ich einmal, Margret hätte mir Geld geschickt in einem Brief, und Margret hätte geschrieben, dass ich Mutter nichts davon sagen sollte, damit sie es mir nicht wegnähme und Kerzen oder Rosen dafür kaufte. Die Frau im Laden lächelte und sagte:
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