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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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der Übereinkunft, nichts miteinander zu tun haben zu müssen, dachte Horn.
    Sie sprachen über die Weihnachten ihrer Kindheit, über die Leere des riesengroßen Wohnzimmers und über die mit Lametta behängten Christbäume. Die Musik sei natürlich von der Schallplatte gekommen und das Essen sei ausnahmslos fürchterlich gewesen. Einzig von einer Großtante, die man zehn, zwölf Jahre lang am Heiligen Abend für ein paar Stunden in der Familie geduldet habe, habe sie sich verstanden gefühlt. Als die Tante schließlich an den Folgen einer Herzmuskelentzündung gestorben sei, habe ihre Mutter gesagt: »Na, Gott sei Dank, jetzt ist Ruhe!« Vielleicht habe damals dieses Gefühl der Einsamkeit begonnen, genau wisse sie es nicht. Ich möchte sie in den Arm nehmen, dachte Horn, und zugleich wusste er, dass eben das im Grunde schon die Diagnose war. Man schreibt ›Depression‹ hin, dachte er, verordnet ein Medikament und weiß, dass es immer mit dem Wunsch zu tun hat, in die Arme genommen zu werden.
    »Wissen Sie, was das Schlimmste ist?«, sagte sie nach einer Weile, »das Schlimmste ist, wenn man merkt, wie man sich selbst verloren geht; wie das, von dem man gemeint hat, es mache einen aus, aus einem heraussickert. Am Ende ist das, was von einem übrig bleibt, ein leerer Sack, sonst nichts.« Horn wusste dazu nichts zu sagen. Mit zunehmendem Alter weiß man zu gewissen Dingen nichts mehr zu sagen, dachte er.
    Sie erzählte von einer erfolgreich bestandenen Prüfung in Verwaltungsrecht, und er wusste immer noch keine Antwort auf die Frage, warum diese junge Frau begonnen hatte, Jus zu studieren, und nicht Tunnelbau oder Architektur oder Gemälderestauration. Oder gleich Psychologie. Immerhin konnte er sich inzwischen vorstellen, wie sie da vorne im Gerichtssaal stand und missbrauchte Buben vertrat oder kleine Mädchen, die von ihren Vätern gegen die Wand geworfen worden waren. »Das Schlimmste, Euer Ehren, ist«, würde sie sagen, »dass in diese Kinder in Wahrheit nichts hineingetan wird, zum Beispiel etwas, das wir Gewalt nennen oder Trauma, nein, das Schlimmste ist, dass aus diesen Kindern alles herausgeprügelt wird oder herausgefickt, was vielleicht zuvor in ihnen drinnen war.« Sie würde sich nicht scheuen, ›herausgefickt‹ zu sagen, und der Richter würde große Augen machen.
    »Ich stelle mir vor, es ist schön, eine Frau zu haben, die zu Weihnachten auf dem Cello spielt«, sagte Heidemarie und schaute traurig. Horn zögerte. »Ja«, sagte er schließlich, »das ist schön.« Er dachte daran, wie Irene am Heiligen Abend das Largo aus Händels ›Xerxes‹ gespielt hatte und er sie in diesem Moment so geliebt hatte, dass es wehtat. Und er dachte, dass es für einen Psychiater unabdingbar war, die Menschen an sich heranzulassen, Heidemarie zum Beispiel, die er nie zurückwies, wenn sie die Grenze zum Privaten überschritt. Sie sprachen noch über die Ungerechtigkeit von Lebensschicksalen und über das bevorstehende Sommersemester. Er erhöhte die Dosis des Antidepressivums eine Spur und verschrieb ihr zusätzlich ein Schlafmittel. »Wenn Sie wieder in Wien sind, werden Sie es nicht mehr brauchen«, sagte er. Sie nickte und stand auf. Als er ihr zum Abschied die Hand reichte, zog sie ein Päckchen aus der Manteltasche. »Auf ein gutes neues Jahr.« Dunkelblaues Papier mit kleinen bunten Sternen. Dem Format nach eine CD. Bevor er sich bedanken konnte, war sie weg.
    Er drehte das Ding einige Male hin und her, dann legte er es zur Seite. Er würde es erst zu Hause aufmachen.
    Linda war in ein Telefonat vertieft und winkte abwehrend, als er sich über sie beugte, um sie zu bitten, Pippin hereinzuholen. »Das ist ja unglaublich«, sprach sie an ihm vorbei und zwirbelte eine Locke um ihren Zeigefinger. Horn ging selbst in die Wartezone hinaus.
    Der Mann kam strahlend auf ihn zu. »Es ist alles weg«, sagte er, »komplett verschwunden, so als wäre nichts gewesen.« Horn gab ihm eine halbe Packung Diazepam-Tabletten samt einer genauen Dosierungsanleitung mit. »Brauchen Sie die üblichen Ermahnungen?«, fragte er ihn. Der Mann schüttelte den Kopf. »In einem Monat möchte ich Sie wiedersehen«, sagte Horn. Er wusste, dass der Mann nicht kommen würde.
    Horn machte seine Eintragungen in die Patientenkarteien. Die EDV funktionierte einwandfrei. Sogar der Link zum Diagnosenschlüssel war eingerichtet. Das war nach dem Desaster, das die Programmumstellung verursacht hatte, die seit Mitte Oktober im gesamten Haus

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