Die Süße Des Lebens
passierte ihm sonst auch nicht: Ein halber Tag verging, und was blieb, war die unangenehme Erinnerung an einen Psychopathen wie Norbert Schmidinger. Vielleicht noch eine Spur von dem Gefühl, dass eine traurige Jusstudentin den Wunsch hatte, in den Arm genommen zu werden.
Er ging in die Küche. I 23 war eine Station, auf der man am allerbesten zuerst in die Küche ging, egal, ob man Hunger hatte oder nicht: die zwölf psychiatrischen Betten, für die Horn zuständig war, plus sieben mehr oder minder Sterbende, verteilt auf drei Zimmer am Ende des Ganges – der Beginn von Lili Brunners Hospizstation. Auf triebnahen Ebenen musste diese Kumulation von Elend kompensiert werden. Eine Trüffeltorte stand da, von der ein kleiner Teil fehlte, weniger als ein Viertel. Die Partner und Kinder der Hospizpatienten brachten ständig Torten mit, besonders an den Feiertagen, obwohl sie genau wussten, dass auch damit der Tod nicht aufzuhalten war. Die Angehörigen der psychiatrischen Patienten brachten nichts, bestenfalls Missstimmung und abgelaufenen Kaffee. »Ich koche uns nachher etwas.« Christina, die stellvertretende Stationsschwester, kam herein und stellte einen Sack mit Lebensmitteln auf die Arbeitsfläche. Sie war groß, ein wenig kantig gebaut, und fuhr im Winter Snowboard-Rennen. Das hatte sie auch nach der Geburt ihrer mongoloiden Tochter vor dreieinhalb Jahren nicht aufgegeben. Die Kleine besuchte seit einigen Monaten den Kindergarten und machte sich prächtig. Speziell Lea Wirth, die am Anfang voller Skepsis gewesen war, hatte sie ins Herz geschlossen. Der Vater des Mädchens war noch vor dessen erstem Geburtstag abgehauen. »Segelboote verkaufen und ein behindertes Kind – das verträgt sich offenbar nicht«, sagte Christina manchmal und hatte dabei einen verbitterten Zug um den Mund.
»Also keine Torte vor der Visite.« Horn zog ein Gesicht. Christina lachte und fasste ihn prüfend an den Oberarm. »Wo du doch immer noch unglaublich dünn bist.«
»Blödsinn!« In künstlicher Empörung trat er einen Schritt zurück. In Wahrheit hatte er sich von Christina immer schon alles gefallen lassen, Kritik, Komplimente und Bemerkungen über seinen Körperbau. Er wusste, dass das gar nichts damit zu tun hatte, dass ihre Tochter behindert war.
Benedikt Ley, der achtzehnjährige Tischlerlehrling mit dem doppelten Nasenring, hatte sich am Heiligen Abend den letzten Rest jenes chemisch nach wie vor unklaren Halluzinogens verabreicht, das ihn schon eine Woche davor in eine ziemlich hässliche Verfassung gebracht gehabt hatte. Jetzt hockte er trotz beträchtlicher Neuroleptikaeinflößungen mit schreckensgeweiteten Augen auf dem Bett und schwitzte. Als Horn ihn fragte, warum er das Zeug genommen habe, stammelte er nur wirres Zeug. »Wahrscheinlich war es zum Wegwerfen einfach zu teuer«, sagte Raimund, der Pfleger, der sie auf der Tour durch die Zimmer begleitete. Er wusste in diesen Dingen ganz offensichtlich Bescheid. Horn hatte ihn noch nie darauf angesprochen.
»Sein Vater prügelt ihn immer noch, auch in der Öffentlichkeit«, erzählte Christina draußen vor der Tür.
»Obwohl er schon volljährig ist?«, fragte Horn.
»Das ist einem echten Fernfahrer scheißegal«, sagte sie. Horn hatte den alten Ley noch nie zu Gesicht bekommen, sehr wohl jedoch seine Frau, mehrmals. Sie hatte stets eine schwarz gerahmte Brille und ein dunkelviolett geblümtes Kostüm getragen. Diese Mutter verlangt tatsächlich nach optischer Aufbesserung, dachte Horn, und fand es im selben Augenblick geschmacklos.
Sie standen vor Caroline Webers Zimmer und Raimund war gerade dabei zu erzählen, wie sie ihn als Gehilfen des Satans in ihren Wahn eingebaut hatte, als Elfriede den Gang herauf kam. »I 23 wünscht der Kinderabteilung frohe Feiertage«, sagte Christina und grinste. Elfriede reagierte nicht. »Sie kommen mit einem siebenjährigen Mädchen«, sagte sie zu Horn, »vollkommen starr, spricht nichts, bewegt sich nicht. Die Rettungsleute sagen, so etwas haben sie noch nie gesehen.« Horn überlegte. »Starre Mädchen, die plötzlich nichts reden, bringen sie uns gelegentlich vorbei.« Elfriede machte eine Reihe ausfahrender Bewegungen mit den Händen. Für einige Augenblicke brachte sie kein weiteres Wort heraus. »Es muss mit dem Großvater zu tun haben«, sagte sie schließlich, »die Kleine hat ihn gefunden. Im Schnee. Irgendetwas war mit seinem Gesicht.«
Drei
Kovacs nahm die Pflöcke aus Fichtenholz, die ihm Lipp, der junge
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