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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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gelaufen war, eine angenehme Überraschung. Ich gehöre zu einer Generation, von der eine grundsätzliche Elektronikskepsis erwartet wird, dachte Horn, das ist eigentlich furchtbar.
    Linda telefonierte immer noch, als er die Ambulanz verließ. Er warf ihr eine Kusshand zu. Sie hob den Arm und es schien ihm kurz, als wolle sie ihn aufhalten. Er zögerte für einen Moment, dann ging er weiter.
    Im Stiegenhaus sah Horn die Zuweisungszettel durch. Er ordnete sie nach Stockwerken, von oben nach unten, wie immer. Sieben Stück, drei davon von der Orthopädie, der kleinsten Abteilung des Hauses. Köhler hatte Dienst gehabt, das erklärte die Sache. Er war erstens ein Angstneurotiker wie aus dem Lehrbuch und zweitens psychiatrisch eindeutig überinteressiert. Anfangs hatte ihn Horn mehrmals gehänselt – die Hammerzehe sei wahrhaftig ein komplexes psychosomatisches Phänomen, und so in der Art, doch das hatte augenblicklich zu einer Vervielfachung der Konsiliarzuweisungen geführt, und Horn hatte es wieder bleiben lassen.
    Drittes Stockwerk. Auf der Unfallchirurgie ein älterer Mann nach einer Beckenverplattung. Ein Verwirrtheitszustand auf Grund der langen Narkose; würde mehr oder minder von selbst abklingen. Auf der Gyn eine ausgesprochen blasse, verheulte neunzehnjährige Jungmutter, die in eine postpartale Depression zu rutschen schien. Auf der Orthopädie ganz wie erwartet zwei der drei Zuweisungen hundertprozentig unnötig: ein junger Mann mit einer aseptischen Schienbeinkopfnekrose, der blöd genug gewesen war, im Anamnesegespräch anzugeben, er nehme gelegentlich Cannabis, und eine Frau, für deren Schmerzen nach der Bandscheibenoperation in erster Linie der Psychiater zuständig zu sein schien. ›Analgetikamangelsyndrom‹, schrieb Horn hin, obwohl er wusste, dass Köhler ein ziemlich humorfreier Mensch war. Die dritte Zuweisung ging in Ordnung. Eine fünfzehnjährige Gymnasiastin, der man zwei Tage vor Weihnachten auf Grund eines Osteosarkoms im oberen Schienbeindrittel den rechten Unterschenkel wegamputiert hatte. Horn sprach mit ihr übers Tanzen und Schifahren und darüber, dass es für einen Prothetiker vermutlich nichts Reizvolleres gebe, als einem hübschen Mädchen ein neues Gehwerkzeug anzumessen. Am Ende schrieb er ihr die Telefonnummer von Konstanze Witt auf, einer Psychotherapeutin, die ihre Praxis ein Stück oberhalb der Uferpromenade hatte, wenige Minuten vom Wohnhaus des Mädchens entfernt. Für den Fall, dass sie das Gefühl habe, sie komme mit der Angelegenheit nicht alleine zurecht.
    Zweites Stockwerk. Auf I 22 roch es nach verbrannter Milch. Das war einer der Gerüche, die er schon als Kind nicht vertragen hatte. Fußschweiß und verbrannte Milch. Vielleicht wird man als Mediziner Psychiater, dachte er, wenn man den Geruch von Fußschweiß nicht verträgt. »Hier stinkt’s«, sagte er zu Doris, die eben aus dem Depot kam, einen Packen Bettwäsche auf den Armen. Sie grinste. »Das kommt heraus, wenn eine philippinische Krankenschwester versucht, Kaffee mit Milchschaum zu machen.« »Josephine?«, fragte er. Doris nickte und lachte. Josephine machte ständig eigenartige Sachen. Zuletzt hatte sie an allen möglichen Ecken der Station bunte Origami-Schwäne als Weihnachtsdekoration aufgestellt. Die meisten Leute hatten es nett gefunden.
    Der höhere Beamte der Landesstraßenverwaltung, den Cejpek ihm angekündigt hatte, thronte im Bett und starrte in die Glotze. ›Kevin allein in New York‹, zum tausendsten Mal. Er bekam einen roten Kopf, als Horn ihn bat, vorübergehend abzudrehen. Ansonsten erwies er sich vor allem als zwanghaft strukturierte Persönlichkeit; nicht die Spur einer Depression. Horn schrieb das auch so hin: »Nicht die Spur einer Depression.« Bei Cejpek war Klartext immer die beste Variante. Der Mann war unter anderem für diverse Auftragsvergaben im Fahrbahnsanierungsbereich zuständig. »Wie oft werden Sie bestochen?« Manchmal erfasste Horn der unbändige Drang, die Leute zu konfrontieren. Der Mann wurde blass. Blutdruckmäßig war das wahrscheinlich günstig. »Fernsehen macht übrigens impotent, das hat eine große amerikanische Studie bewiesen«, sagte Horn, bevor er das Zimmer verließ. Er war sicher, dass der Mann zu jenen Menschen gehörte, die sich durch große amerikanische Studien beeindrucken ließen; genau wie Cejpek.
    Ich habe Hunger, dachte Horn, als er das Stiegenhaus querte, in letzter Zeit habe ich viel mehr Hunger als früher. Er sah auf die Uhr. Das

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