Die Süße Des Lebens
in den Hörer.
Es war nicht die Unfallchirurgie, sondern Irene. Sie sprach leise. »Sei bitte nicht böse über die Störung. Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich entschlossen habe, den Tschaikowsky nicht zu spielen.«
Er fühlte sich mit einem Mal hilflos und leer und wusste nicht, warum. Obwohl das Mädchen neben ihm auf dem Boden saß und alles mithören konnte, sagte er: »Katharina hat soeben zum ersten Mal gesprochen. Sie hat ein ganz sonderbares Wort gesagt. Davor hat sie einer Puppe Tüll um den Kopf gelegt.« Irene schwieg. Er horchte in die Stille hinein.
Neunzehn
Es handelte sich um eine Art Déjà-vu. Ludwig Kovacs verspürte eine kindische Freude, als er es erkannte. Demski hatte ihn ein einziges Mal zu Hause angerufen, damals vor drei Jahren, als er spät abends über den Rand des Duschbeckens gestolpert und mit dem Gesicht gegen die Armatur geknallt war. Demski hatte sich einen Jochbeinbruch zugezogen gehabt und es war völlig klar gewesen, dass er beim besten Willen nicht in der Lage sein würde, am nächsten Morgen ins Büro zu kommen. Trotzdem hatte er sich tausendmal entschuldigt, für sein Versehen, wie er es bezeichnete.
Jetzt entschuldigte er sich erneut, erneut tausendmal und im gleichen Ton. Er nannte es diesmal nicht ›Versehen‹, sondern ›Irrtum‹. Genauer sagte er: »Möglicherweise bin ich einem Irrtum aufgesessen.« Kovacs freute sich ein zweites Mal, kurz und kindisch, denn Demski war bisher noch nie einem Irrtum aufgesessen.
Er habe vereinbarungsgemäß Walter Grimm angerufen, den Bewährungshelfer, und tatsächlich sei ihm Daniel Gasselik zugeteilt worden. Er stehe nicht sonderlich auf junge Psychopathen, habe Grimm gesagt, unter anderem, weil ihre Prognose so schlecht sei und sie alle früher oder später wegen gravierender Gewaltdelikte für lange Zeit in den Bau gingen, aber gut, Job sei eben Job. Er habe Gasselik am Ende der Haft zweimal im Gefängnis besucht, um ihm die Funktion der Bewährungshilfe klar zu machen, sei aber auf absolutes Desinteresse gestoßen. Schon gar nicht sei da etwas wie eine Beziehung entstanden und daher habe es ihn, ehrlich gesagt, auch nicht gewundert, dass der junge Mann weder zum ersten vereinbarten Treffen gekommen sei noch sich telefonisch bei ihm gemeldet habe. Vor Gasseliks vorzeitiger Haftentlassung habe er, Grimm, mit zwei Justizwachebeamten gesprochen, von wegen Charakterbesonderheiten et cetera, und beide hätten sonderbar gegrinst und gesagt: »Du wirst sehen, aus dem wird noch was.«
Kovacs versuchte sich mit der linken Hand einen Socken über den Fuß zu ziehen. »Hat Grimm von sich aus irgendetwas unternommen?« »Was meinst du mit ›unternommen‹?«, fragte Demski.
»Hat er ihn angerufen? Ist er hingefahren?«
»Erzählt hat er nichts dergleichen.«
Paranoid und stinkfaul sei eine ausgesprochen unsympathische Kombination, sagte Kovacs, und Grimm müsse man zuallererst seinen E-Schocker wegnehmen, denn damit verteidige er ohnehin ausschließlich seine eigene Passivität. Der Socken blieb an Ludwig Kovacs’ kleiner Zehe hängen und ließ sich nicht weiterbewegen. Kovacs fluchte. »So wichtig ist er nun auch wieder nicht«, sagte Demski.
»Wer? Mein Socken?«
»Wieso dein Socken?«
»Vergiss es! Steig ins Auto und hol mich ab.«
»Wieso? Was hast du vor?«
Kovacs versuchte den Socken wegzuschleudern und traf dabei mit dem Rist ein Tischbein. Er ächzte auf. Demski schien stutzig zu werden. »Wenn Marlene bei dir ist und du hast gerade Sex oder so, dann ruf ich später noch einmal an«, sagte er. Ich werde gerade von einem Tischbein in den Fuß gefickt, dachte Kovacs, das ist leider die Wahrheit. »Wir besuchen Gasselik«, sagte er, nachdem er dreimal tief durchgeatmet hatte. »Was heißt ›wir‹?«, fragte Demski.
»Wir beide. Du und ich.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Warum nicht?«
»Er hat schließlich Vorerfahrungen mit mir.«
»Und du mit ihm«, sagte Kovacs. Er hat ihm damals während der Vernehmung beinahe eine geknallt, dachte er, er hat Angst vor ihm und er hasst ihn, das ist der Punkt. Demski schwieg. »Er verachtet dich. Vielleicht veranlasst ihn das zu einem Fehler«, sagte Kovacs.
»Warum verachtet er mich?« Demski war hörbar irritiert.
»Er hat deine Angst gespürt. Psychopathen verachten Menschen, die Angst haben, und zugleich brauchen sie das Gefühl der Macht über sie.«
Er habe in seinem Leben eindeutig schon angenehmere Rollen zu spielen gehabt als jene des
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