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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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Mitte des unteren Querbalkens ließ sie ein Feld frei. Sie setzte ab, schien eine Weile zu überlegen und schrieb dann mit Blockbuchstaben etwas hinein. »Was schreibst du da?«, fragte Horn. Sie schaute ihn an und sagte nichts. Als er sich vorbeugte, um das Wort zu lesen, deckte sie es mit der Hand zu und nahm dann das Blatt an die Brust, sodass er nur noch die Rückseite sehen konnte.
    Nach einer Weile rutschte sie ein Stück weg von ihm, schaute sich im Zimmer um und verschob schließlich das Sagenbuch an eine Stelle des Bodens, auf die direktes Sonnenlicht fiel. Sie legte die Zeichnung oben auf das Buch und exakt in den gezeichneten Rahmen hinein die Puppe. Ein Fräulein liegt auf seinem Bett, dachte Horn, und darunter liegt ein Buch mit hundert Rittern – eine eigenartige Version der Prinzessin auf der Erbse. »Die Prinzessin liegt in der Sonne«, sagte er. Katharina betrachtete ihre rechte Handfläche, dann stand sie auf. Sie trat an den Schreibtisch, schaute Horn kurz ins Gesicht und nahm aus dem zylinderförmigen Holzbehälter mit den Stiften die kleine Papierschere, die mittendrin steckte. Sie ging erneut in die Knie, griff nach der Puppe und schnitt vorsichtig von der Unterkante weg in die äußere Schicht des Tüllkleides hinein. Horn war kurz versucht, zu intervenieren, hielt sich aber zurück. Der Anfang einer Reaktionsbildung, dachte er, die Identifikation mit dem vermeintlichen Aggressor. Auf diese Weise versucht ihr Unbewusstes, die Vernichtungsängste in den Griff zu bekommen.
    Katharina schnitt ein viereckiges Stück Tüll aus dem Kleid und legte es auf das Gesicht der Puppe. Horn stellte sich die Ritter mit ihren Helmen vor und Katharinas Großvater, der kein Visier vor dem Gesicht gehabt hatte. Sie ist die Puppe, dachte er, sie schützt sich an seiner Stelle und zugleich zeigt sie, dass sie sich wehren kann.
    Katharina kniete da und schien zu überlegen. In diesem Augenblick läutete zum ersten Mal das Telefon. Horn fluchte innerlich, als er abhob. Katharina hob die Schere und begann mit entschlossenen Schnitten, der Prinzessin von der Hüftnaht abwärts das Kleid vom Leib zu schneiden.
    Es war Edith, eine der erfahrenen Schwestern der Unfallchirurgie. »Mike hat gesagt, ich soll Sie bitten, zu kommen. Die kleine Schmidinger weint und erbricht seit einer Stunde«, sagte sie.
    »Ist Mike bei ihr?«
    »Nein, ich bin bei ihr.«
    Katharina wand die beiden Tüllbahnen, die sie abgeschnitten hatte, mehrmals um den Kopf der Puppe. Danach legte sie die Schere zur Seite, setzte sich hin, zog die Knie an die Brust und betrachtete ihr Werk.
    »Können Sie mir Mike an den Apparat holen?«
    »Ich fürchte, das geht momentan nicht.«
    »Warum geht das nicht?«
    »Er muss an der Stationstür bleiben.«
    Katharina strich mit der Kuppe ihres Zeigefingers über das Tüllgespinst, das um den Kopf der Puppe lag.
    Dann sagte sie etwas, ein einziges Wort.
    Horn erstarrte. Unwillkürlich streckte er den linken Arm in den Raum. Das Wort fassen, dachte er, die Zeit anhalten und das Wort fassen.
    »Sind Sie noch da?«, fragte Edith.
    Ja, ich bin noch da, dachte Horn, ich stehe hier wie Moses, der das Rote Meer teilt, und versuche ein Wort zu fassen.
    »Ja, ich bin noch da«, sagte er, »was macht Mike an der Stationstür?«
    »Er schaut, dass der Vater nicht wieder reinkommt.«
    »Welcher Vater?«
    »Der von Birgit.«
    Horn legte auf. Für einen Moment fühlte er sich total wirr im Kopf. Die Zeit anhalten, das Wort fassen, den Arm runternehmen, dachte er, danach Schmidinger.
    Er erhob sich vorsichtig, als könne er etwas kaputtmachen, trat auf das Mädchen zu und ging neben ihm in die Knie: »Ich habe gehört, was du eben gesagt hast. Ich habe es mir gemerkt, du kannst ganz sicher sein.«
    Katharina hob ihren Zeigefinger langsam weg von der Tüllhaube der Puppe. Horn konnte jetzt erkennen, was sie in das leere Feld in dem schwarzen Rahmen geschrieben hatte: LORVEK. Er brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte. Joseph Bauer heute Morgen, dachte er, die Eindrücke vom Begräbnis, der Sargabsenker. Erste Klasse Volksschule, dachte er – sie kann schon viele Buchstaben. Ab und zu vertauscht sie sie noch.
    Das Telefon läutete noch einmal. Im Aufrichten spürte er, wie er sauer wurde. Zwei Worte, dachte er, ein gesprochenes und ein geschriebenes, zwei Mädchen – eins, das dringend Hilfe braucht, und eins, das nach wie vor Rätsel aufgibt, dazu ein Psychopath –und ständig das Telefon. »Ich komme ja schon!«, bellte er

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