Die Sumpfloch-Saga Bd. 2 - Dunkelherzen und Sternenstaub
diesen Luxus zu verzichten, war ihm bisher nicht gelungen.
Scarlett hielt ihre Klappe. Und zwar strikt. Ganz gleich, was Gerald ihr unterwegs an unverfänglichen Fragen stellte, sie schwieg. Irgendwann gab er es auf und ging still neben ihr her. Die ganze Zeit flackerte die Sonne auf den Wänden und den Treppenstufen und vom Garten her war lautes Vogelgezwitscher zu hören.
„Da wären wir“, sagte Gerald, als sie im Dachgeschoss ankamen, das hier im Haupthaus weit komfortabler war als da, wo Scarlett und ihre Freundinnen hausten. Die Wohnungstür von Herrn Winter war eine dicke Eichentür mit Schnitzereien, die Faune, Unholde und Gnome darstellten, wobei die Gnome mal etwas abbekommen hatten, ihnen fehlten die halben Gesichter und wo sie standen, war die Tür seltsam schwarz geworden. Es musste eine sehr alte Tür sein.
Scarlett merkte, wie sich eine gewaltige Neugier in ihr regte. In dieser Wohnung war sie noch nie gewesen, in den ganzen Winterferien nicht. Es war, als ob sie einen geheimen Winkel aus Geralds Leben betrat, was aufregend war. Leider hatte sie ihn mehr oder weniger zu diesem Schritt gezwungen, es war also nicht gerade so, dass er sie eingeladen hätte. Immerhin öffnete er die Tür auf eine selbstverständliche Weise, als wäre sie keine Fremde, sondern eine Vertraute, die hierhergehörte. Das tat ihr gut. Das Schlimme war nämlich: Obwohl Gerald ein Lügner war und ein reiches Rittersöhnchen, mochte sie ihn. Viel zu sehr, wie sie gerade feststellte, als sie ihm in ein kleines Wohnzimmer folgte, in dem altmodische Polstermöbel standen und ein kleiner, runder Tisch am Fenster, wo Gerald sie bat, Platz zu nehmen. Sie blieb stehen.
„Möchtest du etwas trinken?“
„Nein.“
„Etwas essen? Mein Vater hat hier ein tolles Früchtebrot gebunkert …“
„Nein. Außerdem ist er nicht dein Vater!“
„Das sagst du so. Aber weißt du, wie lange er das schon macht? Seit zehn Jahren! Er ist wie ein richtiger Vater für mich geworden.“
Gerald klang so ernsthaft, als er das sagte, und es sprach so viel Zuneigung für Herrn Winter aus seiner Stimme, dass Scarletts Zorn fast vollständig verrauchte. Gerald lebte sicher nicht ohne Grund in Sumpfloch. Warum sollte er es freiwillig tun? Und wenn es einen Grund dafür gab, warum er die ganze Zeit log, dann konnte sie vielleicht nicht erwarten, dass er ausgerechnet bei ihr eine Ausnahme machte. Nur weil sie im Winter durch unterirdische Grotten gerudert und Blutpunsch getrunken hatten. Scarlett wurde nachdenklich und schaute aus den kleinen, viereckigen Fensterscheiben hinunter in den Garten. Dann besann sie sich und nahm endlich am Tisch Platz.
„Sagst du mir jetzt die Wahrheit?“, fragte sie.
Er setzte sich zu ihr an den Tisch.
„Ich muss dich inständig bitten, das alles für dich zu behalten“, sagte er. „Es ist wichtig!“
„Ja, wenn es wichtig ist, dann mache ich das“, erwiderte sie. „Schweigen kann ich.“
Endlich verirrte sich wieder ein Lächeln in Geralds Gesicht. Er wirkte erleichtert.
„Klar kannst du schweigen. Es ist immer harte Arbeit, dich zum Reden zu bringen!“
Scarlett lächelte zurück. Sie konnte es nicht ändern. Sie hatte ihm schon verziehen, bevor sie überhaupt wusste, warum er log.
„Wir können beide schweigen, Scarlett“, sagte er und wurde wieder ernst. „Es ist nämlich so, dass mein Vater, mein richtiger Vater, und Viego Vandalez ganz dicke Freunde sind. Das wusstest du nicht, oder?“
Nein, das hatte Scarlett allerdings nicht gewusst.
„Dein Vater Gangwolf? Der Ritter?“
„Warum alle Leute ihn für einen Ritter halten, weiß ich nicht so genau. Aber es stimmt, er nennt sich Gangwolf. In Wirklichkeit heißt er Wolfgang. Das ist ein total gewöhnlicher Name in unserer Welt, niemand denkt mehr an einen Wolf und dessen Gang, wenn er ihn ausspricht. Es ist ein eher uncooler Name. Also hat mein Vater ihn verdreht, als er hierherkam. Der Gang des Wolfes, Gangwolf, das hat ihm gefallen!“
„Wann war das? Wann ist er hergekommen?“
„Als er selbst noch ein Junge war. Er und seine Schwester Geraldine haben sich in diese Welt verirrt und kamen nicht mehr zurück. Die Geschichte ist lang, ich kann sie dir irgendwann mal richtig erzählen. Jedenfalls sind sie in Amuylett hängen geblieben und kamen eines Tages als Schüler nach Sumpfloch. Dort haben sie sich mit Viego angefreundet. Viego gehört zu den dunklen Wesen, die man vom Gefühl her meidet, auch wenn einem die Vernunft etwas anderes sagt.
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