Die Tänzer von Arun
wie Glas. Das Haar war eisengrau. Der Nagel ihres linken kleinen Fingers war überlang. Kerris wußte – Josen hatte ihm das erzählt –, daß die Schreiber in Kendra-im-Delta sich einen Fingernagel absichtlich lang wachsen ließen, um damit die wächsernen Siegel von Briefschaften abzulösen. Die Finger der Alten krümmten sich in die Wolle der Bettdecke. Er kniete neben der Matratze nieder. Die Alte starrte ihm ins Gesicht, dann auf seinen Armstumpf und wieder zurück auf sein Gesicht.
»Wer bist du?« fragte sie.
Weich sagte Lara: »Chelito, das ist Kerris-no-Alis. Du hast ihn sehen wollen.«
Die Frau kniff die Augen zusammen. »Das hab' ich.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie waren aufgesprungen und stark gerötet. »Das hab' ich.« Sie hob eine Hand. »Junge, schau im Schrank nach!«
Kerris richtete sich steif auf, als er »Junge« genannt wurde. Er mahnte sich selber, daß diese Frau krank sei, und drehte sich um, damit er sah, worauf sie deutete. An der Wand stand ein hölzerner Schrank. Obenauf standen ein Krug und ein Becher. Die Schranktüren waren mit einem Metallriegel in der Form eines Federkiels verschlossen. Er trat an den Schrank und schob den Riegel zurück. Die Türen öffneten sich nach außen. »Schau auf dem obersten Bord nach!« befahl sie.
Er mußte niederknien, um in den Schrank blicken zu können. Es roch darin nach Tinte. Das unterste Fach war vollgestopft mit allem möglichen Krimskrams: Schnüre, ein angesprungener Teller, Stoffreste. Auf dem obersten Brett lag ein in Leinen geschlagenes Päckchen. »Nimm das Päckchen!« sagte Meritha. Kerris betastete es mit den Fingern, er fragte sich, was darin sein mochte. Er hob es hoch. Es war leichter als Holz oder Ton. »Nimm es! Nimm es!« keckerte die kranke Stimme. Sie richtete sich im Bett auf, stützte sich auf den Ellbogen, das spröde Haar fiel ihr über die Stirn.
Lara beugte sich über sie und sprach leise auf sie ein. »Geh hinunter!« befahl sie ihm. Kerris setzte sich gehorsam in Bewegung. Die Qual der kranken Frau bohrte suchend in seinem Kopf. Ihre Stimme verlor die harsche Stärke und klang nun wie die eines kleinen Mädchens: Wem gehört der Körper, in den sie mich eingesperrt haben, so schwächlich, so ausgetrocknet und so unbeweglich, das bin nicht ich, ich bin jung und bin stark ... Larita, hilf mir, ich will nicht sterben!
Auf halbem Weg die Treppe hinab begannen Kerris die Knie zu zittern und unter ihm nachzugeben. Er lehnte sich gegen die Wand, um ruhiger zu werden. Er konnte sich nicht erinnern, dem Tod je so nahe gewesen zu sein. Es tat weh. Merithas Klagen und Wimmern stöhnte weiter in seinem Kopf. Drunten erwartete ihn Sefer an der Tür. »Komm weiter!« sagte er. »Wir haben unsern Ausflug erledigt.«
Es dauerte eine Weile, ehe Kerris wieder sprechen konnte. Und er war Sefer für sein Schweigen dankbar. Endlich hörte sein Magen auf, sich umzudrehen. Er nahm das Päckchen fester in die Armbeuge.
»Was ist das?« fragte Sefer.
Kerris stemmte es gegen die Hüfte. »Ich weiß nicht. Machst du es für mich auf?« Es war sehr feines Leinen, fein wie Seide, und goldgelb wie die Färbung von Kels Haar. Sefer faltete das Tuch auf. Drinnen lag Papier, glattes eierschalenfarbenes Papier, gezeichnet mit dem charakteristischen Heringsgrätenmuster, das verriet, daß es in Kendra-im-Delta gefertigt worden war.
Auf dem Weg zu seinem Häuschen machte Sefer bei mehreren Anwesen halt, um den Bewohnern zu melden, daß die Asech nun tatsächlich am folgenden Tag kommen würden, und um die Leute zur Ruhe zu mahnen. Kerris trollte hinter ihm drein und hörte auf alles nur mit einem halben Ohr. Hadril, der Faßbinder, erbot sich, einige andere, unter ihnen Ardith, zu informieren. Moro, der Seiler, war nicht in seinem Haus, aber sein ältester Sohn, ein untersetzter Junge, ungefähr im Alter von Kerris, zog Sefer in einen Winkel, um ihn auszufragen: »Stimmt es, daß die Asech heut nacht kommen?« Es roch nach Himmelskraut in dieser Ecke.
»Nein«, sagte Sefer, »das ist nicht wahr. Sie werden morgen kommen, bei Tageslicht, wie sie es angekündigt haben, und wir werden ihnen Unterricht geben, Perin, nicht sie bekämpfen.«
Perin fingerte an seiner Messerscheide herum. »Da hab' ich aber was andres gehört«, sagte er dunkel.
»Das habe ich auch«, sagte Sefer. »Aber es ist nicht wahr.«
Perin blickte enttäuscht drein. »Ist ... ist der Cheari noch am Leben?« Die Stimme brach ihm über dem letzten
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