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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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Lkws vorbei, ich war kurz vor einem Hitzschlag. Beim Einschlafen dachte ich noch, dass mich die Fahrzeuge überfahren könnten..., es war mir egal. Ich war müde, müde, müde.
    Ich konnte verstehen, dass Kreuze am Weg von verstorbenen Pilgern kündeten.
    So sonderbar war das nicht. Natürlich musste ich dem Tod begegnen auf dem Jakobsweg, ich, die ich ständig mit ihm lebte. Das konnte ich wirklich ehrlichen Herzens behaupten. Schon als Kind habe ich mich für den Tod interessiert, so sehr wie für die Liebe. Da ich auf einem Bauernhof in einem Dorf der fünfziger Jahre aufgewachsen bin, wurde ich als älteste Tochter damit beauftragt, Totenkränze in die Leichenhalle zu bringen, wenn ein Mensch aus dem Dorf gestorben war. Ich machte das mit sehr viel Ehrfurcht und einer Mischung aus Angst, Neugier und Grusel. Aber ich wollte es immer wieder tun. Damals lagen die Verstorbenen noch drei Tage aufgebahrt, damit die Lebenden Abschied nehmen konnten. Meine Großeltern und eine Tante, die bei uns lebte, sind im Haus gestorben. Meine Mutter und ich haben sie gepflegt, dann die Totenwäsche gemacht, sie gekleidet und geschmückt. Es hatte mich beeindruckt, dass sie laut aushauchten, ehe sie starben. Damals gingen diese Zeremonien ganz natürlich in mein Kinderleben ein. Meine Großmutter habe ich davonfliegen sehen, ich war etwa fünf Jahre alt und sehr traurig. Sie hat mir zugeblinkert, und ich sagte allen, dass sie lebt und da oben fliegt. Ich bekam sofort einen Klaps und sollte nicht so frech sein. Vielleicht habe ich deshalb meinen Großvater, der fünf Jahre später starb, nicht mehr fliegen sehen.
    Nach dem Abitur wurde ich Krankenschwester und als solche immer wieder mit dem Tod konfrontiert. Ich liebte es, Sterbewache zu halten, was in DDR-Krankenhäusern als unwichtig erachtet wurde. Damit die Lebenden nicht an den Tod erinnert wurden, schob man die Sterbenden in die Besenkammern oder Toiletten, wo hinein dann keiner mehr durfte.
    Der Stationsdienst war damals sehr hart, wir waren personalmäßig immer unterbesetzt.
    Heimlich ging ich zu den Sterbenden, um sie zu trösten, mit ihnen zu sprechen, die Hände auf ihre Schmerzen zu legen. Zeit haben und zuhören...
    In unseren damaligen Ausbildungen lachte man über das Wort „Psyche“, was ja Seele heißt. Das gibt es nicht, sagte der Psychologielehrer. Es ist eine Erfindung des Bürgertums. In Wirklichkeit sind es alles Hirnfunktionen.
    Später zogen mein Mann und ich mit den Kindern auf ein Dorf, wo ich Gemeindeschwester wurde und in zwölf Jahren dieser Arbeit sehr viele Menschen im Sterben begleitete. In den achtziger Jahren starben viele zu Hause.
    Es gab kein Telefon, noch nicht mal für mich. Die Verwandten kamen mit dem Rad gefahren und riefen zu unserer immer offenen Haustür hinein, dass die Oma oder der Opa stirbt, und ich bin mit meinem Fahrrad zu ihnen gefahren und habe gewacht, bis der Tod eintrat. Über die vielen Erfahrungen könnte ich Bücher schreiben. Diese Arbeit hat mich dem Leben immer näher gebracht. Für einen jeden Menschen windet das Leben irgendwann den Totenkranz.

    Ich lag also am Highway und dachte kurz vor dem Einschlafen an meinen Tod. Eine eigenartige Gelassenheit begleitete die Gedanken. Ich wollte nur meine Ruhe, so stark war die Erschöpfung. Auf dem Pilgerweg zu sterben ist nicht der schlechteste Tod.
    Vor einigen Tagen war Gotthard aus Österreich wegen Kreislaufschwäche zusammengebrochen. Er war Mitte sechzig und hatte behauptet, dass alles eine Frage des Kopfes ist. Wir hatten gestritten. Ich betonte, wie sehr die Gefühle und die Kommunikation mit dem Körper eine Rolle spielen und dass alles auch Gnade sei. Er meinte, dass er im Leben bisher alles erreicht hatte, was er wirklich wollte. Als strenger Katholik wirkte er auf mich eisern und fest, gefüllt mit Prinzipien. Doch den Camino konnte er nicht zwingen. Wenige Tage später, nach dem zweiten Krankenhausaufenthalt, ist er verstorben.
     

Alter Mann,
    heute schlafe ich auf einer Matratze in der Küche der Herberge. Es war kein anderer Platz da, ich kam erst im Dunkeln und war sehr erschöpft. Heute brauchte ich viel Zeit und Langsamkeit.
    Ich vergesse, die Tage und die Kilometer zu zählen. Ich bin selber die Straße und der Staub.
    Ich kann dir was Lustiges berichten. Ich Lief eine Strecke ohne Baum und Strauch, alles Ebene, trockenes, steiniges Land. Es war so gegen elf Uhr. Ich hatte noch nicht gefrühstückt — was mir inzwischen nichts mehr ausmacht, denn ich

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