Die Tänzerin im Schnee - Roman
Morgen, zwischen Buchseiten gesteckte und unter Türen hindurchgeschobene Liebesbriefchen, dieses eine quälende Telefonat und die fieberhafte Versöhnung danach und zuletzt, nach ihrer Verlobung, die verlockende Vorstellung, dass sie nun auch eine Liebesgeschichte zu erzählen hatte und, wie so viele Menschen um sie herum, auf diese allgemeine, öffentliche Art geliebt werden konnte, mit einem glitzernden Diamanten am Finger.
Allein die Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hatte, »verlobt« zu sein, lässt Drew vor Scham erröten; wie dieser Diamant die Leute dazu brachte, sie neu zu bewerten – ihre augenfällige Anerkennung der Tatsache, dass Drew von jemandem geliebt wurde, dass sie es wert war, geliebt zu werden. Diese Art der Anerkennung hatten ihr ihre Eltern zuvor bei keiner anderen ihrer Entscheidungen entgegengebracht (als Hauptfach etwas so wenig Anwendbares wie Kunstgeschichte zu wählen, oder bei einer Kunstgalerie zu arbeiten, die kein Mensch kannte). Wie außerordentlich
gut
sie sich bei ihrer Verlobungsfeier in ihrem eleganten blauen Rock und dem dazu passenden Oberteil mit Matrosenkragen gefühlt hatte, wie eine junge Verlobte aus einem dieser alten Filme, glücklich und jung und vornehm gekleidet, mit einer schicken Bobfrisur. Endlich hatte sie einmal etwas richtig gemacht.
Drew versuchte zu verhindern, dass ihre Gedanken sich verselbständigten und wie schon so oft um die Frage kreisten, wie es wohl jetzt wäre, wenn sie dieses andere Leben behalten hätte. Sie könntebereits ein Baby haben – sie hatte immer geglaubt, dass sie einmal Kinder haben würde, hatte es geplant und auf zwei gehofft, damit sie immer jemanden hätten, der für sie da ist, und nicht so seltsam und introvertiert würden, wie sie selbst sich entwickelt hatte. Mittlerweile schien das alles weniger klar zu sein. In ihrem Alter hatte sie nicht mehr viel Zeit, vielleicht noch ein paar Jahre, in denen diese Möglichkeit bestand.
Doch Drew nahm an, dass das wohl der Preis dafür sein würde, dass sie diese Träume – von Kindern, von einer Familie – mit der Illusion von romantischer Liebe verknüpfte, dieser gefährlichen Vorstellung davon, wie wahre Liebe sein könnte: Zweisamkeit, die auf einer Verbindung beruhte, die Drew noch nie zu jemandem empfunden hatte. Wenn sie zu viel darüber nachdachte, überkam sie manchmal geradezu Panik davor, dass sie, so gern sie auch eine eigene Familie gehabt hätte, im Grunde schon längst eine Entscheidung getroffen hatte. Da sie sich nicht aktiv und mit größtem Eifer auf die Suche nach einem neuen Ehemann begab, sich mit der Unmöglichkeit eines solchen Glücks abfand, gab sie in Wahrheit auch diesen anderen Traum auf.
Die arme Jen hatte keine Chance gehabt, als sie Drew bei dieser Online-Partnerbörse anmeldete. Drew konnte wirklich nicht mehr als ein paar dieser Verabredungen durchstehen, quälend lange Abendessen in Sushibars, Irish Pubs und »Asian Fusion«-Restaurants, mit Männern, die überrascht und leicht verlegen lachten, wenn Drew begeistert von ihren Lieblingsgemälden im Museum of Fine Arts oder einer Vorstellung im Harvard Film Archive erzählte; Männern, die Kaugummi kauten, mit den Beinen wippten und die Gesprächspausen nutzten, um auf ihren Handys herumzutippen …
Genug, sagte sich Drew, wie immer, wenn ihre Gedanken sich so im Kreise drehten. Sie konzentrierte sich erneut auf das Buch in ihrem Schoß und las sogar ein paar der Gedichte laut. Sie waren chronologisch angeordnet, und mit zunehmender Seitenzahl schien es Drew, dass sie sich leicht veränderten und ihrer Süße ein nostalgischer, manchmal wehmütiger, manchmal fast melancholischer Unterton beigemischt wurde. Sie wusste, dass es sich nur um Annäherungen handelte, dass sie im russischen Original anders klingen würden; erst durch Grigori Solodin waren sie für Drew überhaupt verständlich geworden.Dieser Gedanke berührte sie – dass er ihr diese Gedichte nähergebracht hatte, indem er die richtigen Worte fand.
Sie stellte sich das Übersetzen als einsame Aufgabe vor, so einsam wie ihre allabendliche Lektüre auf dem Sofa oder ihre Recherchen in der Bibliothek und online bei Beller. Aber vielleicht zeigte Grigori Solodin anderen die Arbeit, an der er gerade saß, und diskutierte mit ihnen über die Gedichte und seine Übersetzung? Selbst wenn, war ein solches Projekt – ernst und sorgfältig durchgeführt – doch eine persönliche Herzensangelegenheit, mit wie vielen Menschen man auch
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