Die Tänzerin im Schnee - Roman
die lauter wurden. Die Sekretärin war nicht an ihrem Platz, aber nun drangen noch mehr Stimmen vom Flur her zu ihr vor, Englisch mit einem spanischen Akzent … Ein Namensschild aus Plastik an der Tür zeigte an, dass sich hier sein Büro befand: »Grigori Solodin.« Unter dem Namensschild war eine Nachricht auf ein großes gelbes Post-it gekritzelt worden:
Drew,
tut mir sehr leid, musste zu einer Sitzung. Habe Sie nicht mehr auf der Arbeit erreicht. Buch liegt unten. Sie können mir alles andere in meinen Briefkasten werfen. Bitte verzeihen Sie diese eilige Notiz,
GS
Es war lächerlich, wie enttäuscht sie darüber war. Sie hätte nicht einmal sagen können, weshalb; das Buch stand ja auf dem Teppich gegen seine Bürotür gelehnt. Sie hob es auf, steckte es in ihre Ledertasche und zog die Liste heraus, die sie für Grigori Solodin geschrieben hatte. Sie ließ den Zettel in seinen Briefkasten gleiten und sagte sich, dass es gut war, ihn nicht anzutreffen; so konnte sie direkt nach Hause fahren und ausnahmsweise einmal früh ins Bett gehen. Sie brauchte einen ruhigen Abend und eine gute Portion Schlaf. Morgen würde sie schon wieder lange auf sein, da sie direkt nach der Arbeit von Logan aus wegflog; Kate hatte ein Last-Minute-Angebot ausfindig gemacht und sie überredet mitzukommen, fünf Tage und vier Nächte auf den Caicosinseln, Flug und Hotel inklusive. Die ganze Woche über hatte Drew Sachen in ihre Reisetasche geworfen, die geöffnet in einer Ecke ihres Schlafzimmers stand und auf der sich nun ein unordentlicher Haufen gebildet hatte.
Vom anderen Ende des Flurs drangen hinter einer geschlossenen Tür gedämpfte Stimmen zu ihr hervor. Diesmal war es eine mit französischem Akzent und eine andere, die die erste unterbrach. Vielleichtkamen sie von der Sitzung, bei der Grigori Solodin sich gerade befand.
Zu Hause stellte sie fest, dass sie keinen Appetit auf ein richtiges Abendessen hatte. Sie öffnete eine Dose Oliven und schenkte sich ein Glas Wein ein, mit dem sie es sich in einer Ecke ihres großen, klobigen Sofas gemütlich machte. Sie öffnete den Band mit Viktor Elsins Gedichten und las zunächst Grigori Solodins kurzes Vorwort, in dem er die vielen schwierigen redaktionellen Entscheidungen erklärte, die er hatte treffen müssen – obwohl auch der Klang selbst in diesen Gedichten Bedeutung trug, hatte er sich in den meisten Fällen dazu entschlossen, zugunsten der Bilder und der Ausdrucksweise auf Elsins strengeres Reimschema und Versmaß zu verzichten. Als Drew umblätterte, packte sie dennoch eine altbekannte Angst, die sie seit der Grundschule verfolgte und die sie, vermutlich dank Eric, nie ganz hatte überwinden können: dass ihr die Gedichte zu schwierig vorkommen könnten, dass sie sie vielleicht nicht richtig verstand. Noch im College hatte sie befürchtet, sie könnte ein Gedicht falsch interpretieren und sich damit im Unterricht blamieren.
Zu ihrer Überraschung fand sie jedoch diese Gedichte – zumindest die frühen – einfach und entzückend. Einige kamen ihr wie Lieder vor, kleine Weisen, süß und voller Freude. Andere waren länger, ihr Ton mitunter geheimnisvoll, manchmal romantisch – doch, so erschien es Drew, auch sie versteckten ihre Botschaft nicht. Eins der späteren Gedichte gefiel ihr so gut, dass sie es in ihr Notizbuch abschrieb:
Sonntag
Dies ist unser erster Herbst, geteilt
Wie ein gutes Brot mit warmer Kruste
Über einen Tisch gereicht; wie Schatten, die pulsierend
Wie ein einziger vom Lampenflackern stammen.
Sonnenschein fließt von den Hügeln
Auf dein Haar. Das Licht um dich, es tanzt
In der Luft, beleuchtet hell die gelben Äste –
Doch wir zwei genießen unser Schweigen.
Lass uns doch am Flusse liegen,
Lass den Wind uns in verstreute Blätter kleiden
Und von seinen Reisen reden, seinem längst vergang’nen Leben,
Und die Haut des Wassers zum Erzittern bringen.
Drew mochte die Körperlichkeit und Sinnlichkeit, die darin lagen, die Natur mit dem Liebespaar darin, die Reinheit der Bilder trotz, oder vielleicht gerade wegen ihrer Andeutungen: dieses sich vereinigende Paar, ein wirkliches Zusammensein. Auch wenn es etwas starrköpfig war, verstand Drew selbst die Liebe immer noch auf diese Weise – obwohl sie es eigentlich besser wissen müsste. Auch ihre verfehlte Ehe war ja eine Folge dieser romantischen Vorstellungen gewesen, der zwei aufregenden ersten Jahre, in denen sie »verliebt« gewesen waren: die langen gemeinsamen Nächte und
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