Die Tänzerin im Schnee - Roman
ihrer langen dünnen Finger zurück.
»Gut, gut.« Obwohl Serge kaum lächelt, liegt etwas Schmeichlerisches in seinem Verhalten; im Grunde hat Vera diese Wirkung auf jeden Mann – sie umgibt etwas Verletzliches, und sie ist so atemberaubend schön mit ihren großen, dunklen Augen und ihrem dünnen, blassen Körper. Manchmal scheint sogar Viktor ganz überwältigt von ihr. Mit derselben besorgten Stimme, als wäre Gersch nicht einmal anwesend, erklärt Serge Vera: »Polina vermisst Sie an den Abenden, an denen Sie nicht mit ihr in der Garderobe sind.«
»Ich habe ihm von unserem Zungenbrecherwettstreit erzählt«, wirft Polina fröhlich ein und öffnet ihre orangeroten Lippen zu einem breiten Lachen; sie scheint nichts Lüsternes in Serges Anspielung auf die Garderobe zu sehen. Vera lacht ebenfalls, und als Polina beginnt, den anderen die Sache zu erklären, erkennt Nina plötzlich mit einem leichten Schock, dass Polina und Vera irgendwie Freundinnen geworden sind, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hat.
Das Gefühl, das sie überkommt, ähnelt dem Stoß, den es ihr vor ein paar Wochen versetzte, als sie an ihrem freien Abend Mutter besuchen wollte und diese nicht zu Hause war. Besorgt hatte Nina auf sie gewartet, war noch einmal weggegangen und dann zurückgekehrt, als es schon ziemlich spät war. Mutter war gerade erst angekommen und trug noch ihren Mantel, ihre Wangen waren von der Nachtluft kalt und gerötet. Sie lächelte stolz, als sie erklärte – als wäre es die natürlichste Sache der Welt –, dass sie im Bolschoi-Theater gewesen sei, wo Vera einen neuen Solopart tanzte, den sie selbstverständlich sehen wollte.
Serge hat den Kellner auf sich aufmerksam gemacht und hebt die Hand, um zwei weitere Gläser und Wodka für den ganzen Tisch zu bestellen. Nina ertappt sich bei dem Gedanken, dass Polina nun endlich jemanden gefunden hat, der nicht so ein Trottel ist. Sie ist sozusagen von Trittbrettfahrern mit Doppelkinn zu einem etwas höherstehenden Bürokraten aufgestiegen. So sieht es zumindest aus. Obwohl er jünger als die anderen ist, scheint dieser Mann echte Macht zu besitzen. Aber will Polina wirklich eine dieser fetten Ehefrauen der Nomenklatura werden? Ständig hört Nina davon, wie dieser oder jener Regierungsbeamte in Ungnade gefallen ist.
Erstaunlich schnell trägt der Kellner Serges Bestellung herbei. Sieheben ihre Gläser, und Serge bringt einen Trinkspruch aus: »Auf die Zukunft, strahlend knospende Blüte.«
Es ist eine Zeile aus einem von Viktors Gedichten – und in diesen Tagen zu einer Art Redensart geworden. Eine erneute Erinnerung daran, wie bekannt sein letztes Werk mittlerweile ist, wobei es Nina immer noch überrascht, Viktors Worte aus dem Mund eines anderen zu vernehmen. Seine Karriere hat nun, genau wie Ninas, richtig Fahrt angenommen, und auch seine Einkünfte haben sich verdoppelt. Erst letzten Monat wurde er zum Herausgeber einer neuen Kunstzeitschrift ernannt, außerdem schreibt er regelmäßig seine Kolumne für die
Literaturnaja Gaseta
. Und im kommenden Jahr wird er als eine Art Belohnung mit zwei Journalisten auf eine »Goodwillreise« nach Paris geschickt.
Der Wodka rinnt Ninas Kehle hinunter. Polina bemerkt: »Oh, sie warten auf uns, wir sollten besser rübergehen.« Sie und Serge verabschieden sich, und als Nina sieht, wie Serges Blick dabei auf Vera haften bleibt, wird ihr klar, warum er bereit war, sich an ihren Tisch zu setzen.
Als sie fort sind, knurrt Gersch: »Dieser Mann sieht aus wie eine Forelle.«
»Jetzt sei nicht eifersüchtig«, verlangt Vera, obwohl man Gersch mit seinem leichten Schielen und seinem angeschlagenen Ruf deswegen kaum einen Vorwurf machen kann. Ruhig fügt Vera hinzu: »Verstehst du, er ist einer von der Sorte, die man auf seiner Seite haben will. Wir sollten Polina dankbar sein.«
Nina kann nicht widerstehen, zu dem anderen Tisch hinüberzuschauen, an dem Männer wie Serge (der in Wirklichkeit überhaupt nichts von einer Forelle hat) und die Frauen mit dem strahlend orangefarbenen Lippenstift sitzen. Viktor sagt einfach nur mit einem kurzen, abschätzigen Seufzen, als hätte er das Ende einer traurigen Geschichte erreicht: »Arme Polina.«
Los 58
Nicht gefasster, birnenförmig geschliffener pinkfarbener Diamant. Der modifizierte Brillant wiegt 2,54 ct., natürliche Farbe, Reinheit:
VVS1. 100 000 –150000 Dollar
KAPITEL 10
D rew erklomm die steilen Treppen des Instituts für Fremdsprachen und hörte entfernte Stimmen,
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