Die Tänzerin im Schnee - Roman
vom Rest des Publikums abschirmt, befindet sich eine gepanzerte Seitenloge: Loge A, wo ein Haufen Leibwächter den Generalissimus höchstpersönlich bewacht. Nina kann sie erkennen, sucht mit den Augen weiter und erhascht einen kurzen Blick auf ihn, wie er hinter einem Tisch sitzt. Breite Schultern, schwere Wangen, ein dichter Schwung grauen Haars. Er ist wirklich hier, er wird wirklich zusehen, wie sie Kitris Drehungen und die Sprünge mit gebogenem Rücken vollführt.
Er hat natürlich seine Lieblinge. Marina Semjonova zum Beispiel. Und die furchtlose, kokette Olga Lepeschinskaja, die auch Delegierte des Obersten Sowjets der RSFSR ist und der Stalin trotz ihres gedrungenen Körperbaus und ihrer weniger klassischen Linie den Spitznamen »Libelle« gegeben hat. Doch das macht nichts, sagt sich Nina, als sie ihre Schuhe an der Kiste mit dem Kolophonium wachst und überprüft, dass die Bänder oben nicht hervorstehen. Sie fühlt schon jetzt, da der Prolog vorbei ist, diese Mischung aus Schwitzen und Frösteln, die sie manchmal vor ihrem ersten Auftritt überkommt. Konzentriere dich, sagt sie sich, atme tief durch und behalte deine Nerven.
Aber sie kann doch nicht aufhören, an Gersch und Vera zu denken … Blitzartig erscheinen Erinnerungen vor ihrem inneren Auge, Gersch, wie er auf Ninas eigener Hochzeit grinsend neben ihr undViktor im Standesamt steht, in seinem ausgebeulten Anzug, der leicht nach feuchter Wäsche riecht …
Konzentriere dich, sammle dich. Du bist Kitri, Lorenzos eigenwillige Tochter; niemand schreibt dir vor, was du tun sollst. Du bist wild und verführerisch und verliebt. Lass alles andere hinter dir.
Sie weiß, dass genau das geschehen wird, dass alles an Bedeutung verlieren wird, sobald sie die Bühne betritt – dass während des Tanzes jedes Unglück, wie schlimm es auch sein mag, auf einmal weniger schwer wiegt. Sogar während des Krieges, als jeden Tag von Verwüstungen berichtet wurde und der Hunger ihr wie ein spitzer Stein im Magen lag, erwachte Ninas kraftloser Körper jedes Mal zum Tanz und fand immer noch eine Kraftreserve, von der sie ansonsten nie geahnt hätte, dass sie sie noch besaß. Manchmal gerät sie geradezu in Verzückung, wird eins mit der Musik und ist nicht länger eine bestimmte Person, sondern einfach euphorische Bewegung, die alle Probleme der Welt verschwinden lassen kann. Das körperliche Empfinden des Tanzes hat – trotz stets wunder Füße und verletzter Beine und dreckiger, vom Kolophonium gelb gefärbter Trikots – bisher immer dafür gesorgt, dass andere Nöte in Vergessenheit geraten.
Nun überprüfen die Garderobieren ein letztes Mal ihr Kostüm und ihre Frisur, und der Requisiteur reicht ihr den schwarzen, mit Rüschen besetzten Fächer. Für den ersten Akt wurde die Bühne in einen belebten Marktplatz verwandelt, und in dem Augenblick, in dem Nina zuversichtlich aus den Kulissen läuft und ihren Fächer mit einer schwungvollen Handbewegung öffnet, beginnt das Publikum zu applaudieren. Nina lächelt breit und stolz; diese Eröffnungsszene offenbart Kitris ganze Persönlichkeit, ihre fröhliche Selbstsicherheit. Sie ist verführerisch und unbefangen, doch sie weiß, was sie will.
Nina gibt sich dem temperamentvollen Walzer von Minkus hin und genießt die Sprünge und Tritte und hohen Sätze, die ihr Körper so liebt. Sie fühlt sich stark und leicht und dreht sicher die schnellen
Chaînés
. Sie grüßt mimisch ihre spanischen Freundinnen und flirtet mit einigen der jungen Männer, während Stalin die ganze Zeit über zusieht – doch selbst bei ihrer letzten Abfolge von Sprüngen um den Platz herum, bei denen sie mit dem Fächer fest auf den Boden schlägt, behält Nina die Kontrolle über jede ihrer Bewegungen. Währendihrer ersten Variation, bei der sie die Kastagnetten herausfordernd klappern lässt, macht sie bei den
Sissones
einen perfekten Spagat, so dass ihr Kopf sich parallel zu ihrem hinteren Bein befindet, wenn sie sich mitten im Sprung zurückbeugt, und der Arm hinter ihr beinahe ihren ausgestreckten Fuß berührt. Pjotr, der an diesem Abend ihr Basil ist, hat seine Nerven ebenfalls nicht verloren; er unterstützt Ninas Pirouetten souverän, hält sie mit eiserner Sicherheit mit einer Hand über seinen Kopf und hebt sie dabei hoch in die Luft, als ob es die einfachste und natürlichste Sache der Welt wäre.
Zwischen den Akten eilen sie und Pjotr hinter die Bühne und warten am Tisch des Intendanten im Nebengang. Von hier aus haben sie zur
Weitere Kostenlose Bücher