Die Tänzerin im Schnee - Roman
versteckte er diese Tatsache vor Drew? Warum hatte er ihr nicht einfach erzählt, woher er die Kette hatte? Drews Phantasie war entflammt,und sie erklärte leicht verlegen: »Ich wusste, dass ihr Mann Dichter war, aber ich wusste nicht, dass er gelesen wird – ich meine, das wollte ich so nicht sagen. Mir war nicht klar, dass man sein Werk auch auf Englisch … bekommen kann.«
»Das weiß niemand.« Dieser trockene Humor, den er sich manchmal zu eigen machte.
»Ich würde sie wahnsinnig gern sehen.«
»Seine Gedichte?« Grigori Solodin war hörbar überrascht.
»Ihre Übersetzungen. Ich würde sie sehr gern lesen.«
»Oh, selbstverständlich. Ich kann Ihnen welche schicken, ich muss sie nur kopieren –«
»Ich kann sie mir abholen kommen. Und Ihnen die anderen Sachen mitbringen. Die Schlagworte für die Suche nach Borowoj.«
»Das wäre prima.«
»Ich kann morgen nach der Arbeit vorbeikommen.«
Am nächsten Tag würde er beschäftigt sein, und am Tag darauf traf sie sich mit ihrer Freundin Kate zu einer Weinprobe. Sie verabredeten sich für den Donnerstag. »Wäre halb sechs in Ordnung?«
»Ich werde hier sein.« Grigori gab ihr die Adresse des Instituts und erklärte ihr, wo sie ihn dort finden würde.
»Großartig. Und ich bringe Ihnen eine Liste mit Wörtern mit, nach denen Sie auf Russisch suchen können.«
Noch nachdem sie aufgelegt hatte, konnte sie Grigori Solodins Stimme mit diesem leichten Akzent hören, die auf sanfte, heitere Art sagte: »Bis dann.«
Als sie sich von dem Eingriff erholt hat, geht Nina mit Viktor, Gersch und Vera zusammen in eins der wenigen Tanzlokale der Stadt. Es ist schon spät genug – und die Menge scheint ausreichend frei von Parteifunktionären –, so dass die Musiker begonnen haben, amerikanischen Jazz zu spielen. Gersch ist betrunkener als gewöhnlich und bringt einen langen georgischen Trinkspruch aus, der alle zum Lachen anstiftet.
Dann hört es sich auf einmal so an, als wäre den Musikern ein Fehler unterlaufen, der Rhythmus gerät ins Stocken. Nach ein paar unbeholfenen Takten findet die Musik sich in einen traditionellen Rhythmus ein und klingt nun nicht mehr im Entferntesten wie Jazz.
Nina und die anderen spähen hinüber zum Eingang. Eine Gruppe Parteimitglieder, die in ihren breiten Mänteln schwer und mächtig aussehen. Sie haben Frauen dabei, jede von ihnen trägt einen großen Silberfuchs um den Hals. Und dann entdeckt Nina unter ihnen – ihren eigenen Silberfuchs über die linke Schulter drapiert und die Lippen nach der neusten Mode orangerot geschminkt – Polina.
Als sie Nina und Vera sieht, winkt Polina überschwänglich. Sie packt ihren Begleiter am Arm und zieht ihn lächelnd bis zu ihrem Tisch, wobei ihre blassen Sommersprossen leuchten. »Seht mal, wer da ist!«
Polina stellt den Mann vor, er heißt Serge. Er sieht erstaunlich gut aus, groß, mit breitem Unterkiefer und goldbraunem Haar, das einen Kontrast zu seinen dunklen Augen bildet; er hat den strengen, leicht distanzierten Gesichtsausdruck eines Fahrkartenkontrolleurs. Er ist etwas jünger als die Lakaien, mit denen Polina sonst immer ausgeht. Seine stolze Haltung scheint nicht von Alkohol und zu vielen Kartoffeln, sondern tatsächlich von innerer Stärke zu rühren. Nina stellt überrascht fest, dass Vera und Gersch ihn mit einer zurückhaltenden Vertrautheit begrüßen, als träfen die beiden Paare sich nicht zum ersten Mal.
Serge gibt sich ebenfalls reserviert, womöglich, damit seine Parteifreunde Gersch nicht für einen guten Freund von ihm halten. Vera hat einen Stuhl vom leeren Nebentisch herangezogen, und Polina nimmt neben Viktor Platz. Er lächelt sie beflissen an und beugt sich sogleich zu ihr – aber Nina weiß, dass das nun einmal seine Art ist, und regt sich kaum auf, als Polina sein Lächeln geziert erwidert.
Serge hat sich neben Vera gesetzt und fragt sie in besorgtem, fast vertraulichem Ton: »Wie geht es Ihrer Achillessehne? Doch hoffentlich schon besser?« Vera hat sich in der vorigen Woche verletzt, kurz nachdem der Artikel mit Gerschs Namen erschienen war. Viktor behauptet scherzhaft, es sei eine »solidarische Verletzung«. Aber Nina kann darüber nicht lachen; sie weiß, dass es für eine Ballerina kaum etwas Frustrierenderes gibt, als nicht tanzen zu können.
»Wenn alles gutgeht, sollte ich Ende nächster Woche wieder anfangen können«, antwortet Vera ruhig, mit leichter Distanz in der Stimme. Sie streicht sich das Haar mit einer unruhigen Bewegung
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