Die Tänzerin im Schnee - Roman
darüber sprach. Drew kannte das von ihrer eigenen Arbeit. Am Ende war man mit sich selbst allein.
Ihr kam es in den Sinn, dass ihre Arbeit der Grigori Solodins in dieser Hinsicht ähnelte: Sie fand hinter den Kulissen statt, war nicht glamourös, aber notwendig und blieb im besten Fall unbemerkt. Dieser ganze Aufwand, um der Öffentlichkeit am Ende etwas Wunderschönes zu präsentieren. Natürlich verlangte Grigori Solodins Arbeit wahres Talent, während Drew für ihre hauptsächlich Geduld benötigte. Aber für beide musste man Sorgfalt und große Mühe aufwenden und der Sache all seine Aufmerksamkeit widmen, was zu einer Art Hingabe führte, wenn man sich ganz in diesen Zustand fügte und ihn selbst als Belohnung empfand.
Durch diesen Gedanken fühlte sich Drew weniger allein, oder vielleicht einfach glücklicher allein, während sie im Schneidersitz auf dem Sofa saß. Es war tröstlich zu wissen, dass sie doch nicht ganz so merkwürdig war, dass es noch andere Menschen gab, die Freude an stillen Herausforderungen und einem ruhigen Leben fanden. Menschen, die so sehr in ihren Gedanken wie in der realen, dinglichen Welt lebten. Es erinnerte sie daran, dass wahre Hingabe an seine Arbeit, an seine Kunst – egal wie klein oder geringfügig diese auch erscheinen mochte – in Wahrheit einen Glauben und eine feste Bindung an das Leben ausdrückte. Wenn Jen und Stephen und Kate behaupteten, Drew verbringe zu viel Zeit in ihren Büchern und in der Welt in ihrem Kopf, hatten sie damit wahrscheinlich recht. Aber andererseits dehnte sich diese innere Welt auch weit aus und wuchs immer weiter und offenbarte dabei Möglichkeiten, die die wirkliche Welt nicht unbedingt zu bieten hatte.
Winter 1951. Das Mondlicht verzerrt die Schatten der riesigen, bedrohlichwirkenden Gebäude über dem Platz. Nina spürt ihre Gegenwart wie ein Gewicht, das auf ihr lastet, als sie zitternd in Richtung des Bolschoi-Theaters eilt. Dort wimmelt es bereits von Sicherheitsbediensteten. Die am Eingang halten Gewehre mit Bajonetten vor der Brust und wollen von Nina einen speziellen Pass mit ihrem Bild darauf sehen, auch wenn sie längst ein allseits bekanntes Gesicht ist. Sie überprüfen den Ausweis kalt, bevor sie ihr Eintritt gewähren. Den ganzen Abend lang wird sie diesen Pass wieder und wieder zeigen müssen, um in die Garderobe, den Schminkraum und das Badezimmer zu gelangen … sogar noch, bevor sie auf die Bühne tritt (wo sie das steife Kärtchen irgendwo unter ihr Kostüm stecken und beten muss, dass es nicht herausrutscht).
Innen huschen Theaterleute aufgeregt herum, wie immer an solchen Abenden. Früher hätte Nina sich vielleicht auch so gefühlt, nervös und stets bemüht zu gefallen. Immerhin tritt Stalin nur zweimal im Jahr öffentlich auf, zur Parade am ersten Mai auf dem Roten Platz und im Juli bei der Flugschau, was diesen Theaterbesuchen noch mehr Bedeutung verleiht. Nina hätte nicht gedacht, dass es etwas geben könnte, das sie von dem Wissen um Jossif Wissarionowitschs Anwesenheit im Publikum ablenken würde. Doch nun, selbst als sie sich schminkt und ihren Knoten mit einem ganzen Bataillon Haarnadeln befestigt, muss Nina ununterbrochen an Vera denken und daran, was Gersch getan hat … Sie versucht, ihren Gedanken Einhalt zu gebieten. Konzentriere dich. Denk nur ans Tanzen.
An diesem Abend wird
Don Quichotte
aufgeführt, und sie trägt Kitris kokettes spanisches Kostüm, auf dessen Rock mehrere Schichten roter Rüschen übereinanderliegen, die vor- und zurückschnellen, als Nina in den Übungsraum huscht. Sie geht ihre üblichen Aufwärmübungen durch und lässt mit einer Hand an der Stange ihre Beine nach vorn und hinten schwingen, um ihre Hüften zu lockern. Tief atmen … Der Große Führer wird Nina heute zum ersten Mal tanzen sehen, gleich in einer Hauptrolle – und einer technisch anspruchsvollen noch dazu.
Die Tür öffnet sich, und in ihrem Straßentänzerinnenkostüm tritt Polina ein, die ihren offiziellen Pass in der Hand hält und die Beinwärmer über die Knie gezogen hat (deren Sehnen sich schnell entzünden,wie sie sich oftmals beklagt). »Puh, die sind ja einfach überall.« Durch das kleine quadratische Fenster in der Tür kann Nina die obere Hälfte der in Falten gezogenen Stirn eines Sicherheitsbediensteten sehen. Mittlerweile haben sich die Männer als Platzanweiser verkleidet oder sich in Zivil in der gesamten Konzerthalle verteilt, einige sitzen sogar bei den Musikern im Orchestergraben.
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher