Die Tänzerin im Schnee - Roman
wusste gar nicht, dass du heute Abend tanzen wirst.«
»Ich springe für Vera ein. Ihre Achillessehne ist wieder schlechter geworden. Ich bin ja so aufgeregt!« Der Raum füllt sich mit dem schweren Duft von Polinas Parfüm, während sie die Beine dehnt, die Zehen streckt und sich dann für ein paar
Relevés
auf die Fußballen erhebt. Mit angespannter Stimme fügt sie hinzu, was sie eigentlich sagen wollte: »Du hast ja bestimmt gehört, was ihr sogenannter Liebster getan hat.«
»Ihm wird keine andere Wahl geblieben sein«, erwidert Nina und rollt ihren Kopf nach links und rechts, um ihren Hals zu lockern. »Das ist für mich die einzig schlüssige Erklärung.« Wie Nina soeben erst von Viktor erfahren hat, hat Gersch Zoja geheiratet.
»Es ist doch ganz offensichtlich, dass er sie nicht liebt«, fährt Nina fort. »Ich meine, Zoja. Er braucht sie nur als … du weißt schon. Zur Tarnung.«
»Wie meinst du das?«
»Sie ist ein angesehenes Parteimitglied. Sie hat behauptet, dass sie ihm vielleicht helfen kann. So wie sich der Wind gerade gedreht hat.«
»Das hat sie gesagt?«
»Ja, Gersch zufolge. Er hat Viktor erzählt, dass Zoja mit der Idee zu ihm kam – sie hat ihm vorgeschlagen zu heiraten.«
»
Sie
hat es vorgeschlagen?« Polinas Augen weiten sich ungläubig. »Die Frau schreckt ja vor gar nichts zurück!« Als würde sie Zoja selbst kennen und ganz selbstverständlich reagieren … Sie macht
tss
und schüttelt den Kopf. »Die würde wohl wirklich alles tun, um Gersch zurückzugewinnen.«
Aber warum sollte sie nur, so schlecht, wie die Dinge gerade für ihn stehen?, fragt sich Nina. Vielleicht ist sie durch ihre Position in der Partei geschützt – was auf Vera nicht zuträfe, wenn Gersch sie heiraten würde. Diese Gedanken bringen Nina zu der Feststellung:»Schließlich beschützt er Vera auf diese Weise ja gewissermaßen auch.«
Das hat ebenfalls Viktor behauptet – dass Gersch Vera diese letzte Welle der Dunkelheit nicht antun wollte. Nicht nach allem, was sie schon durchgemacht hat.
Und Viktor fügte hinzu, dass all dies sicher ohnehin nur von kurzer Dauer sein würde, man wisse doch, wie das in der Politik sei, so etwas halte nie lange an … Noch vor einem Jahr hätte Nina die Situation kaum so klar erkennen können.
»Ich hasse ihn jedenfalls dafür.« Doch in Polinas Stimme liegt keine Boshaftigkeit. Sie sieht eher erschöpft aus, und trotz der dicken Schicht Theaterschminke sieht man die tiefen grauen Ringe unter ihren Augen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Nina. Vielleicht sind es nur die Nerven.
Polina schaut weg. »Ich schlafe zur Zeit nicht gut.«
»Vielleicht kann Onkel Felix dir etwas geben.« So nennen alle den Arzt des Bolschoi-Theaters, den früher oder später jeder von ihnen einmal aufsuchen muss.
»Ach, das wird schon von selbst wieder weggehen.« Dann sagt sie, bemüht, das Thema zu wechseln: »Ich nehme Gersch das einfach nicht ab.«
»Soweit wir wissen, hat es doch kaum etwas zu bedeuten«, gibt Nina zurück. »Vielleicht geht es nur darum, ein paar Papiere zu unterschreiben. Womöglich ändert sich gar nicht viel.«
»Ja, wahrscheinlich.« Polina kratzt sich am Hals und erst jetzt bemerkt Nina die blassroten Flecken dort. Auch Polinas Brust ist mit hellroten Quaddeln übersät.
»Ich glaube, du hast irgendeinen Ausschlag.« Sie muss wirklich nervös sein; Nina hat das schon bei früheren Besuchen des Großen Führers bemerkt – Leute, die so aufgeregt waren, dass sie Nesselsucht bekamen.
»Ich weiß nicht, was es ist. Ich habe das jetzt schon seit Tagen. Sie gehen weg, und dann kommen sie wieder. Ich dachte, die Schminke würde sie abdecken.«
»Du solltest wirklich mal zu Onkel Felix gehen.«
»War ich schon. Er meinte, es wäre eine Allergie. Dass ich ein schlechtes Ei gegessen habe.«
»Na ja, versuch wenigstens, dich nicht zu kratzen.«
»Ich versuch’s, glaub mir, ich habe nämlich eine ganz furchtbar empfindliche Haut.«
Die Tür wird schwungvoll geöffnet, und der stellvertretende Inspizient ruft: »Fünf Minuten.«
Sie wünschen sich gegenseitig Hals- und Beinbruch, und Nina macht sich zum Gehen bereit. Sie wird in der ersten Szene nach dem Prolog auftreten. »Und nicht kratzen!«, wiederholt sie, bevor sie die Treppe hinunterläuft.
Nina wartet in der vorderen Seitenkulisse auf ihren Auftritt und schaut unruhig über die Köpfe der Musiker hinweg auf die andere Seite der Bühne. Dort über dem Orchester, hinter langen roten Vorhängen, die sie
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