Die Tänzerin im Schnee - Roman
auch verständlich?
Wenn sie nur mit jemandem reden könnte. Doch Jen würde nur alle möglichen heiklen Fragen stellen, wie: Bist du dir wirklich hundertprozentig sicher, dass er nicht verheiratet ist? … Und Kate wäre schockiert über sein Alter. Ganz zu schweigen davon, dass er ein Kunde war, mit dem sie beruflich zu tun hatte, zumindest noch während der nächsten drei Wochen. Sie musste sich fangen, einmal tief durchatmen. Und ihm doch zu verstehen geben: Was er getan hatte, war in Ordnung. Sie vertraute ihm, sosehr sie sich auch fürchtete.
Für eine ganze Weile ließ sie ihre Arbeit liegen und hing einfach nur ihren Gedanken nach. Dass sie tatsächlich endlich einmal etwas empfunden hatte, und dann auch noch bei einem Mann, bei dem sie niemals damit gerechnet hätte. Genau wie bei Grandma Riitta und Trofim … Sie musste beinahe laut auflachen und betrachtete ihren Granatring. Grandma Riitta hätte sie verstanden. Dieser Gedanke – an Grandma Riittas Liebesgeschichte – brachte Drew auf eine Idee.
Sie benötigte noch ein paar Augenblicke, um sich zu entscheiden. Dann nahm sie den Hörer vom Telefon und wählte Grigori Solodins Nummer.
Sobald sie ihn begrüßt hatte, sagte er: »Es tut mir so leid, ich hoffe –«
»Es gibt nichts, das Ihnen leidtun müsste.« Sie hoffte, ihre Stimme bekräftigte ihre Worte. »Ich wollte mich nur … professionell verhalten.«
»Natürlich, ja, bitte denken Sie nicht –«
»Ich rufe wegen einer anderen Sache an. Sie hat gar nichts damit zu tun.« Sie hörte sich von einer »persönlichen Angelegenheit« reden und war sich dessen bewusst, dass sie schon mit diesem Telefonat, das sie über ihr dienstliches Telefon führte, eine Grenze überschritt. »Es gibt da ein Tagebuch, das ich schon immer einmal lesen wollte. Es geht nur über ein paar Seiten, aber es ist auf Russisch. Mein Großvater hat es geschrieben. Der Vater meiner Mutter. Jetzt befindet es sich bei meiner Mutter, da meine Großmutter ebenfalls schon verstorben ist. Aber sie versteht auch kein Russisch. Ich habe mich immer gefragt, was darin steht.« Das fehlende Interesse ihrer Mutter an diesem Tagebuch stellte Drew vor ein Rätsel, obwohl sie selbst lange Zeit bei dem Gedanken daran leise Angst verspürte, was es wohl offenbaren würde: den Mann selbst, den Vater ihrer Mutter in seinen eigenen Worten, nicht durch Riittas liebevolle Erinnerungen gefiltert.
»Ich würde es mir mit Freude ansehen.« Rasch fügte er hinzu: »Wenn es das war, was Sie fragen wollten.«
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar.«
Grigori klang erleichtert, fast überrascht, als er hinzufügte: »Womöglich werde ich keine große Hilfe sein, wenn die Handschrift schwer zu entziffern ist. Aber ich möchte es sehr gern versuchen.«
Drew erwiderte, sie müsse ihre Mutter bitten, es ihr zu schicken. »Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich es einmal meinen Kindern zeigen werde.« Als sie sich so reden hörte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie die Hoffnung, tatsächlich einmal eine Familie zu gründen, noch nicht ganz aufgegeben haben konnte. »Oder es zumindest an sie weitergebe. So wie mir meine Großmutter Geschichten über ihn erzählt hat.«
»Standen Sie sich nahe? Sie und Ihre Großmutter?«
»Ja. Im Grunde ist sie meine Seelenverwandte. Ich denke jeden Tag an sie.« Nach einer kurzen Pause hörte sie sich sagen: »Ich wünschte, ich könnte mit ihr über … manche Sachen reden.«
Grigori sprach mit gedämpfter Stimme: »Drew, ich –« Er atmete tief durch, schien kurz nachzudenken, und Drew bekam plötzlich Angst vor dem, was er als Nächstes sagen könnte. »Was ich Ihnen heute gezeigt habe. Die Briefe. Das sind auch Erbstücke. Wie das Tagebuch Ihres Großvaters. Das sollten Sie vielleicht wissen.«
»Von Ihrer Familie?« Drews Gedanken überschlugen sich; sie überlegte fieberhaft, worin die Verbindung bestehen könnte.
Nach einer Weile sagte Grigori: »Sehen Sie, mein Interesse an Viktor Elsin, meine Forschungen zu seinem Werk haben einen familiären Hintergrund. Deshalb habe ich mich überhaupt erst für ihn interessiert. Ich habe noch mehr Unterlagen. Fotografien. Ich würde mich freuen, sie …«
Obwohl er verstummte, erkannte Drew, dass er sie gerade um etwas bat, dass es ihm nicht leichtgefallen war, all das zu erzählen und dass sie nun an der Reihe war, ihm zu helfen. »Ich würde sie wirklich gern sehen. Also, wenn Sie das möchten …«
Er sagte leise ja.
Ein paar Tage darauf stellt sich Nina an
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