Die Tänzerin im Schnee - Roman
wegen Verstoßes gegen Paragraph 58 verhaftet. Aber ich versichere Ihnen, und Sie würden es bestimmt ebenso sehen, dass mein Mann niemals etwas getan oder gesagt hat, nie an etwas teilgenommen oder etwas gelesen hat, das auch nur im Entferntesten im Zusammenhang mit jeglicher Form von konterrevolutionärer Propaganda steht.«
Nina kann nicht umhin zu fragen: »Glaubst du, es gibt da etwas, das wir nicht wissen?« Sie spricht es vorsichtig aus, da sie weiß, was es bedeutet, so etwas auch nur zu denken. »Irgendetwas, womit er sich beschäftigt hat?«
»Ich bin seine Frau, ich würde es ja wohl wissen.«
Wut steigt in Nina auf. Weißt du, dass er sich immer noch mit Vera getroffen hat?, will sie fragen. Um sich zu beruhigen, holt sie tief Luft und bemerkt dabei erneut den vertrauten Geruch in der Luft.
Zoja ergänzt: »Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob seine Familie nicht vielleicht irgendwie … Weißt du, ich kenne sie eben nicht. Er sagt, dass seine Eltern und alle anderen Verwandten tot sind. Aber vielleicht waren sie, du weißt schon … Teil des Klassensystems. Man kann das ja nicht ausschließen, oder? Aber selbst wenn sie es waren, sollten wir doch von den Sünden unserer Väter befreit sein. Immerhin leben wir in einer neuen Welt – oh, das klingt gut!« Sie kritzelt schnell etwas auf ihren Zettel.
Die Proberäume im Bolschoi-Theater. Daran erinnert Nina der Geruch. Das ist es: der Geruch von kaltem menschlichem Schweiß.
»Ich versichere Ihnen«, liest Zoja weiter, »dass mein Mann, wie ich selbst, sein Leben immer als Teil des Kampfes für eine große neueGesellschaft angesehen hat. Von unserer Geburt an wurde uns gelehrt, stets rechtschaffen, offen und ehrlich zu sein –«
»Verzeihung, Genossin, aber können Sie mir sagen, welche Schlange das hier ist?« Eine nahezu zahnlose Frau zupft an Ninas Ärmel.
Wieder ist Ninas erster Gedanke, dass sie erkannt worden ist. Auch mit dem Tuch, das ihr halbes Gesicht bedeckt, heben sie und Zoja sich von den anderen Menschen in dieser Schlange ab, da ihre Mäntel nicht ganz so dünn und ihre Schuhe nicht ganz so zerschlissen sind.
»Stehen Sie hier für Auskünfte an oder für Paketzustellungen?« Aufgrund der vielen Löcher in ihrem Gebiss klingen die Worte der Frau unbeholfen.
»Hier erhält man Auskünfte«, antwortet Zoja forsch und zeigt auf eine andere Schlange. »Sie müssen sich dort anstellen.«
»Vielen Dank, Genossin.« Die Alte schlurft davon – und Nina kann sehen, dass die Fersen ihrer Filzstiefel ebenfalls Löcher aufweisen.
»Wo war ich stehengeblieben – ach ja, hier. Stets rechtschaffen, offen und ehrlich zu sein und immer bereit, die Feinde des Sozialismus zu bekämpfen. Mein Ehemann hat immer treu nach diesen Glaubensbekenntnissen gelebt …« Im Anschluss führt Zoja jede größere Aufführung von Gerschs Werken und jeden Preis, den er je gewonnen hat, auf. Wahrscheinlich wäre es gut, wenn auch Nina und Viktor einen Brief für Gersch schrieben, obwohl immer die Gefahr besteht, selbst für den »Verlust politischer Wachsamkeit« bestraft zu werden. Und was ist mit Leuten wie dieser alten Frau mit den abgetragenen Stiefeln? … Hat sie jemanden, der für sie einen Brief schreiben würde?
Zojas Brief ist lang. Erst ganz am Ende der dritten Seite liest sie vor: »Genosse Stalin, ich danke Ihnen dafür, dass Sie dieser dringenden Angelegenheit Ihre Aufmerksamkeit widmen, und ich freue mich darauf, als treu ergebenes und begeistertes Parteimitglied weiterhin meinen Beitrag zu leisten. Immer bereit für die Sache der Arbeiter zu kämpfen, et cetera …« Zoja gibt mit einem Nicken zu erkennen, dass sie fertig ist.
»Das ist ein guter Brief«, beteuert Nina und wünscht sich dabei, genauso hoffnungsvoll wie Zoja sein zu können.
»Na, wir werden es sehen.« Zoja seufzt leise vor Müdigkeit. »Danke, dass du mit mir wartest. Das ist wirklich sehr nett von dir.«
Nina bekommt kurz ein schlechtes Gewissen. Denn sie steht hier eigentlich nicht aus Nettigkeit. Sie will ganz einfach etwas Neues erfahren, das sie Vera mitteilen kann. Wo Gersch gerade ist oder wo sie ihn hinbringen werden. Überrascht nimmt sie zur Kenntnis, dass wohl alle in dieser Schlange sich dieselben Fragen stellen und hier sind, weil jemand, den sie kennen, verhaftet wurde, und dass sie genau wie Zoja nicht einmal wissen, wo diese Person sich gerade aufhält. Nina beobachtet, wie einer nach dem anderen an das Fenster tritt, und kann auf den ersten Blick erkennen,
Weitere Kostenlose Bücher