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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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einem kühlen Frühlingsnachmittag zu Zoja in die lange Schlange vor dem Informationsbüro in der Petrowka-Straße. Sie wollen herausfinden, ob Gersch noch immer dort festgehalten wird, da er nicht mehr von der MUR zurückgekommen ist. Bislang hat Zoja nur in Erfahrung bringen können, dass er wegen »antisowjetischer Aktivitäten« verhaftet wurde. So hat es Viktor zumindest an Nina weitergegeben. Sie hofft, heute mehr erfahren zu können. Obwohl das Informationsbüro erst um halb elf öffnet, steht Zoja schon seit fünf Uhr morgens an, um einen Platz möglichst weit vorn in der Schlange einzunehmen. Als Nina um ein Uhr zu ihr stößt, stehen tatsächlich mehrere hundert Menschen auf dem Bürgersteig an. Nina beginnt sie zu zählen, schließlich hat sie nun mehr als genug Zeit.
    Im Himmel haben sich dicke graue Knoten gebildet. Sobald die Sonne nicht scheint, fühlt sich die Luft sogar noch kälter an. Nina hat Zoja Beerensoda und Kekse mitgebracht, die diese dankbar annimmt und auf der Stelle verzehrt. »Es ist wirklich wahnsinnig nett von dir, dass du mir beim Warten Gesellschaft leistest«, erklärt sie immer wieder. »Auch wenn mit mir gerade natürlich nicht viel anzufangen ist. Bevor du kamst, bin ich andauernd im Stehen eingeschlafen! Ich hasse es nämlich, so früh aufzustehen, aber gestern war ich erst um sieben hier und habe acht Stunden gewartet, und gerade als ich endlich an der Reihe war, hat die Frau im Fenster verkündet, dass sie jetztschließen!« Nina drängt sich der Gedanke auf, dass ihre Vermutung richtig gewesen sein muss: Zoja scheint Gersch wirklich zu lieben. »Ich wollte doch nur wissen, ob sie ihn irgendwo hingebracht haben.«
    Der Geruch in der Luft kommt Nina sonderbar bekannt vor. Sie denkt angestrengt nach, woran er sie erinnert. Ab und zu drücken die Menschen hinter ihnen gegen sie, als könnten sie so die Schlange verkürzen. Beim ersten Mal denkt Nina spontan, sie wäre erkannt worden und einer ihrer Bewunderer in der Schlange würde nun für Aufruhr sorgen – aber sie hat sich extra ein großes Tuch um den Kopf gebunden und ist im Grunde kaum zu erkennen.
    »Aber ich habe meine Zeit trotzdem sinnvoll genutzt«, berichtet Zoja. »Ich habe begonnen, einen Brief zu schreiben, der die Sache möglicherweise wieder in Ordnung bringen wird.« Sie holt ein Blatt Papier und einen Stift aus ihrer Tasche. »Vielleicht kannst du mir helfen.«
    »Ich fürchte, ich kann nicht besonders gut –«
    »Lieber Genosse Stalin – oder findest du das zu unpersönlich?« Zoja kennzeichnet eine Stelle auf dem Zettel mit ihrem Stift und beginnt erneut mit klarer, stolzer Stimme: »Lieber Jossif Wissarionowitsch – klingt schon besser, oder? Direkter. Lieber Jossif Wissarionowitsch – oh, und eine Kopie muss an den Kunstbeauftragten gehen, findest du nicht? Es hat ja schließlich etwas mit Kunst zu tun.« Sie macht sich eine weitere Notiz. »Lieber Jossif Wissarionowitsch, ich schreibe Ihnen in einer dringenden Angelegenheit bezüglich meines Mannes, des angesehenen Musikers und Komponisten Aaron Simonowitsch Gerschtein. Lassen Sie mich zunächst versichern, dass ich eine aktive und verantwortungsbewusste Bürgerin und seit 1947 Mitglied der WKP bin. Ich bin in Moskau geboren und aufgewachsen und habe am Institut der Roten Professur die Geschichte der Partei studiert. Nach meinem Abschluss habe ich begonnen, für die Regierung zu arbeiten, zunächst bei der Gelehrtenhilfe, dann beim Hochschulausschuss des Moskauer Amtes für Bildung. Mittlerweile organisiere ich für das Amt Vorträge …«
    Nina hört schweigend zu, wie Zoja fortfährt und als Nächstes Gerschs Ausbildung und Berufsleben ausbreitet, wobei sie jeden einzelnen Punkt als Beweis für seine patriotische Geisteshaltung anführt.Zwischendurch gerät sie ab und zu auf der Suche nach einer besseren Formulierung ins Stocken. Sie klingt die ganze Zeit ernst und hoffnungsvoll, und Nina fühlt sich an die Briefe erinnert, die sie und ihre Schulkameraden als Kinder an den Vorsitzenden Kalinin geschrieben haben.
Hallo, Onkel Mischa!
, daraufhin eine vielversprechende Auflistung aller Dinge, die sie in der Schule lernten, und ganz zum Schluss irgendeine einfache Bitte.
Grüße auch Onkel Stalin und die anderen von mir …
Sie haben damals noch so aufrichtig geglaubt. Jetzt kommt es ihr allerdings nur noch kindisch vor.
    »Obwohl er seinem Land mit seiner Arbeit als Dozent und Komponist über viele Jahre pflichtbewusst gedient hat, wurde mein Mann

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