Die Tänzerin im Schnee - Roman
wem von ihnen gesagt wird, ihr Angehöriger sei bereits weggebracht worden. Das sind die, die den Kopf hängenlassen oder laut weinen und sich dann vor einem zweiten Fenster anstellen, um zu erfahren, in welches Lager ihre Liebsten geschickt wurden.
Schließlich ist Zoja an der Reihe. »Ja, er ist noch hier«, verkündet die Frau im Fenster beinahe fröhlich; sie könnte auch Eintrittskarten im Lichtspielhaus verkaufen. »Er ist noch nicht verlegt worden, aber er wurde bereits verurteilt.«
Zehn Jahre »mit Erlaubnis zur Korrespondenz«. Als Nina die Neuigkeiten später am Nachmittag an Vera weitergibt, erklärt diese: »Ich sollte nun wohl erleichtert sein.« Ihr Gesicht ist vom Weinen angeschwollen, und um ihre verquollenen Augen haben sich blassblaue Ringe gebildet. »Wenn dort ›ohne‹ steht, kann man sich auch gleich umbringen.«
»Warum sagst du so etwas?«
»Weil sie dich dann einfach töten können. Sie können mit dir machen, was sie wollen, ohne dass irgendjemand davon erfährt, weil du ja niemandem schreiben darfst. Aber wenn du eine Erlaubnis zur Korrespondenz hast, können andere zumindest annähernd herausfinden, was mit dir geschieht.«
Nina ist immer noch erstaunt darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit Vera solche Informationen verkündet, als hätte sie eine spezielle Quelle dafür oder als ob sie durch die Erfahrung ihrer Eltern ganz automatisch über dieses Wissen verfügte. Wenn Ninas Eltern verhaftet worden wären, hätte sie allerdings wohl ebenfalls versucht,sich solche Informationen zu beschaffen. Vera versteht Dinge mit Leichtigkeit, die Nina erst langsam bewusst werden.
»Wann, hast du gesagt, wollen sie ihn wegschicken?«
»Ich weiß es nicht genau, aber morgen wird er auf jeden Fall noch da sein.«
»Dann kann ich ihm ein Paket vorbeibringen.« Vera geht zu dem kleinen Tisch neben ihrem Bett hinüber und öffnet eine große Palech-Schachtel, aus der sie etwas Geld nimmt, das sie in ein sauberes Taschentuch wickelt. »Ich sollte ihm ein Paar Socken und Unterwäsche besorgen. Und Zwiebeln – gegen Skorbut.« So geschäftsmäßig wie Zoja.
Vera braucht zwei Tage, um das Päckchen für Gersch abzugeben. »Du solltest die Leute sehen, die an der Annahmestelle arbeiten«, berichtet sie Nina, als sie endlich Erfolg hatte. »Sie öffnen dein Paket und holen alles heraus und halten dann jeden einzelnen Gegenstand ins Licht wie eine Probe im Labor. Sie haben die Zwiebeln überprüft, als wollten sie sie auf dem Markt kaufen.« Ihr Lachen klingt schwach und traurig. »Ich hatte einen Brief in einem der Socken versteckt, und die Frau hat ihn gefunden. Sie hat mich angeschrien: ›Was haben Sie sich dabei gedacht?‹ So laut, dass alle Leute hinter mir zu uns geschaut haben. Ich habe geantwortet, dass ich nur sichergehen wollte, dass der Brief nicht verloren geht. Sie daraufhin: ›Jetzt müssen wir ihn lesen, um festzustellen, ob irgendetwas darin steht …‹ Ach, Nina, ich mache mir solche Sorgen, was sie dort wohl mit ihm anstellen.«
»Was stand denn in dem Brief?«
»Oh, nur, dass ich ihn liebe und dass wir alles tun, damit er bald entlassen wird, dass bestimmt irgendjemand seine Beziehungen spielen lassen kann.« Sie wendet den Blick ab, und Nina fragt sich, ob Vera wirklich daran glaubt.
Er bat sie, am nächsten Tag nach der Arbeit in sein Büro zu kommen. Er dachte, so könnten sie sich unterhalten, ohne dass Drew ihre Chefin im Genick saß, wären aber doch nicht ganz allein und müssten sich daher professionell verhalten, so dass Grigori nicht Gefahr lief, sich erneut zu blamieren. Die Abteilung für Asiatische Sprachen hieltum fünf Uhr eine Versammlung ab, und es würde auf den Fluren von Dozenten nur so wimmeln.
Trotzdem nagte die sonderbare Angst an ihm, er könnte Drews Anruf nur geträumt haben. Eine persönliche Bitte, die nichts mit der Auktion zu tun hatte. Er nahm an, dass es sich dabei um einen Ölzweig handelte, mit dem sie ihm zeigen wollte, dass sie nicht vorhatte, ihn verhaften zu lassen. Oder vielleicht war das Ganze nur eine furchtbare Falle, um ihn bloßzustellen und wie einen Dummkopf dastehen zu lassen, weil er in diesem einen erschreckenden Moment das Gefühl gehabt hatte, es gäbe eine Verbindung zwischen ihm selbst – dem mürrischen Grigori – und dieser jungen Frau mit dem fröhlichen Gesicht.
Sie erschien in einem blassgelben Mantel, der den Frühling zu verkünden schien. Noch bevor er sich für ihr Kommen bedanken konnte, begann sie
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