Die Tänzerin im Schnee - Roman
Vera sofort auf Nina machte, als sie vor zwei Jahren zum ersten Mal in ihrer kleinen Garderobe erschien. An ihr ist so einiges rätselhaft. Wie verbringt sie jetzt ihre freie Zeit, da sie nicht mehr Gersch heimlich in seinem Zimmer besuchen oder mit Madame Karten spielen kann? Ganz allein in Ninas alter Wohnung, das ganze Zimmer nur für sich … Anscheinend besucht sie Mutter nur, wenn Nina nicht zu Hause ist.
Nina stellt fest, dass sie Polina ebenfalls aus dem Weg geht und nur mit ihr redet, wenn sie ihr im Bolschoi-Theater direkt über den Weg läuft. Der Ausschlag ist wieder ausgebrochen, Nesselsucht am Hals und schwärzliche Flecken auf ihren Wangenknochen, so dass Nina annimmt, dass Polina immer noch Berichte über Leute schreiben muss. Aber über welche Informationen könnte sie schon verfügen? Obwohl Nina weiß, dass sie selbst nichts Unrechtes getan hat, versucht sie Begegnungen mit Polina zu vermeiden. Diese wirkt jedoch so abgemagert und ängstlich, dass Nina unausweichlich Mitleid mit ihr bekommt.
Ende Oktober gibt Mutter dann endgültig auf. Nina beugt sich über sie und lauscht nach einem Herzklopfen oder einem Atemzug.Doch da ist nichts als Stille und ein entsetzliches Gewicht, das auf sie herabsinkt. Für den Bruchteil einer Sekunde hört Nina wieder etwas, ihre Mutter ist immer noch bei ihr. Doch dann wird ihr klar, dass es ihr eigenes Herz ist, das sie schlagen hört; der erbarmungslose Schlag, mit dem sie endgültig versteht, dass es wirklich vorbei ist. Erst später sieht Nina es als eine Art Geschenk an, dass Mutter es geschafft hat, allein eines natürlichen Todes zu sterben – nach längerer Krankheit und nicht vor Hunger oder im Krieg oder in Gefangenschaft oder durch irgendeine andere Unmenschlichkeit.
Bei der Beerdigung, die unter wolkenlosem Himmel auf dem kleinen nahe gelegenen Friedhof stattfindet, wechseln Nina und Vera kaum ein Wort miteinander. Allerdings wirkt ihr Schweigen nun, da sie die Person verloren haben, die ihnen beiden ein Zuhause bot und für sie eine Mutter gewesen ist, geradezu absurd. Nina ist erleichtert, dass Vera sich ein paar Schritte zurückfallen lässt, als sie sich langsam von dem mit Löwenmäulchen beladenen Sarg wegbewegen.
Nina lässt Viktor und die anderen vorausgehen und wartet auf Vera. »Es tut mir leid«, sagt diese. »Ich habe sie geliebt. Ich möchte, dass du das weißt.«
»Ja, ich weiß.« In Gedanken hört sie die Stimme ihrer Mutter, die Sanftheit, mit der sie immer auf Ninas Klopfen an der Tür geantwortet hat: »Ja, ja, ja«, und das Schlurfen ihrer Pantoffeln, wenn Nina in die Wohnung trat.
»Ich musste daran denken, dass ich ohne sie niemals dieses Leben gehabt hätte. Ich meine, nicht nur in Moskau. Auch, was meine Karriere angeht.«
Das Vortanzen im Bolschoi-Theater. Nina nickt. »Ich habe neulich auch daran gedacht. Wir sind wie zwei kleine Entlein hinter ihr her zur Ballettschule gelaufen. Und dann sind wir durch die Drehtür vom Metropol gegangen.«
Vera schließt kurz die Augen. »Wir beide sind durch dieselbe Tür gegangen, aber ich hatte immer das Gefühl, dass wir an zwei völlig unterschiedlichen Orten wieder herausgekommen sind.« Sie spielt anscheinend darauf an, was mit ihren Eltern geschehen ist, auf ihren Umzug nach Leningrad und die Kirow-Schule.
Nina erwidert: »Ich schätze mal, die Männer dort haben mit Muttergeflirtet, oder was meinst du, weshalb sie uns einfach so durch die Tür gehen ließen? Sie war damals so schlank und hübsch.« Sie würde so gern wieder lächeln können, oder gar lachen. Die sanfte Stimme ihrer Mutter noch einmal hören: »Na, na, na …«
Veras Blick ist immer noch düster und traurig. »Ich weiß, dass ich dir sofort hätte sagen müssen, dass sie krank war. Aber bitte versteh doch …« Ihre Stimme verebbt, und sie wendet den Blick ab.
»Was soll ich verstehen?«
»Es war nicht …
so
.« Vera lässt den Kopf hängen und schaut auf ihre Füße.
»Was meinst du mit
›so‹
?«
»Ich meine, dass der Arzt – das in Wahrheit gar nicht gesagt hat. Dass sie sterben wird. Ich fand, dass sie krank aussah, aber der Arzt … Er hat das so nie gesagt.«
»Willst du damit sagen, du hast … dir das ausgedacht?«
»Ich muss es gespürt haben, sie sah so schlecht aus.«
»Und anstelle mir einfach zu erzählen, dass meine Mutter krank aussieht, hast du also … hast du
das
behauptet.« Nina presst ihre Lippen zusammen und atmet hörbar durch die Nase aus. »Du hast es gesagt, und es ist wahr
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