aufgegeben hatten.
Das leise Piepen ihres Computers ließ Drew den Blick vom Fenster abwenden. Eine E-Mail von Stephen, der fragte, ob sie sich auf ein Bier treffen wollten, und darunter eine Nachricht von ihrer Mutter. Drew klickte sie misstrauisch an, da die meisten Schreiben ihrer Mutter weitergeleitete Warnungen vor irgendwelchen Computerviren oder wahllose Neuigkeiten über Menschen beinhalteten, die Drew entweder kaum kannte oder von denen sie gar nichts erfahren wollte. Heute war es ein Link zu einem Artikel über Kochkurse für Paare und Verheiratete aus der
Seattle Times
. »Eric wird zitiert!«, hatte ihre Mutter dazugeschrieben.
Er und Karen hatten am Konditor-Kurs teilgenommen und überlegten, ob sie beim nächsten Mal den Kuchendekorations-Kurs besuchen sollten. Selbstverständlich las Drew den Artikel; ihre Neugier zwang sie dazu. Wie immer kam ihr dabei für den Bruchteil einer Sekunde der Gedanke: Das hätte ich sein können. Das hätte mein Leben sein können.
Eric Heely und Drew Brooks, ein Ehepaar in den Dreißigern, das von der Ostküste umgesiedelt ist, wollten ursprünglich den kulinarischen Frittierkurs belegen …
Die behagliche Stabilität einer Beziehung, das Ehepaar von nebenan, das sich mit all den typischen Paar-Dingen beschäftigte.
Dann verschwand der Gedanke wieder. Drew fand die Schaltfläche, auf der »Löschen« stand, und wollte sie gerade anklicken, als sie sah, dass eine neue E-Mail in ihrem Postfach lag.
Sehr geehrte Ms. Brooks,
Paul Lequin hat Ihre Anfrage bezüglich der Geschäftsaufzeichnungen von Anton Borowoj an mich weitergeleitet. Die Unterlagen meiner Familie befinden sich in den Archiven der Minnesota Russian Society (hier in Milton, Minnesota). Ich habe der Society von Ihrer Recherche erzählt und die Beschreibungen des Bernsteins, die Sie Paul geschickt haben, an sie weitergeleitet. Die Archivarin dort ist Anna Jakow. Sie können sie jederzeit unter
[email protected] kontaktieren. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg,
Theresa Borowoj-Dunning
Drew stieß einen kleinen Freudenschrei aus und tippte schnell eine Nachricht an Anna Jakow in den Computer. Ihr nächster Impuls war das dringende Bedürfnis, Grigori anzurufen und ihm diese Neuigkeit mitzuteilen, doch ihr war klar, dass sie damit besser warten sollte. Sie hatte ihn seit jenem Tag in seinem Büro nicht mehr gesehen, hatte noch nicht einmal wieder mit ihm gesprochen und entschieden, sie würde sich erst wieder bei ihm melden, wenn sie etwas wirklich Vorzeigbares gefunden hatte. Eine Antwort, irgendetwas, das sie ihm anbieten konnte. Zunächst einmal musste sie herausfinden, ob diese Nachricht irgendwohin führte und ihr tatsächlich ermöglichte, endlich etwas herauszufinden.
Herbstkälte und der Geruch des Winters, abgestorbene Blätter säumen die Wege. Eisige Zugluft weht durch die Korridore und Treppenhäuser des Bolschoi-Theaters. Jeden Morgen in der Übungsstunde nimmt Nina ihren Platz an der Stange ein, ohne zu deren anderem Ende zu sehen, wo Vera an ihrem üblichen Platz steht. Im Flur begegnen die beiden sich nur selten, da ihre Garderoben auf verschiedenen Stockwerken liegen. Nina fällt es nicht schwer, einen ganzen Monat lang kein Wort mit Vera zu wechseln.
Polina, die sonst immer direkt hinter Vera an der Stange stand, hat ihren Platz aufgegeben und steht nun auf der anderen Seite des Übungsraums vor dem Spiegel, den niemand mag, weil er jeden ein bisschen breiter wirken lässt. Polina dürfte das jedoch kaum etwas ausmachen; sie ist so dünn wie immer, ihre Muskeln sichtbar angespannt, Gesäß und Oberschenkel fest zusammengepresst, bevor siedie Beine zum ersten Plié beugt. Ihre Anspannung zeigt sich auch daran, dass sie die Stange fest umgreift, obwohl ihre Finger doch nur leicht darauf aufliegen sollen. Auf dem Weg zur Kolophoniumkiste sieht sie manchmal geradezu krank aus – doch wann immer Nina versucht, ihren Blick einzufangen, wendet sie sich ab. Eines Morgens, als sie gerade einen großen Klumpen Kolophonium in kleinere Stücke schlägt, wirkt Polina wütend und scheint diese Wut an den gelben Brocken auszulassen, die sie zu Puder zerdrückt.
Irgendetwas geht vor sich, und es ist nichts Gutes. Doch so sicher sich Nina mit diesem Gefühl auch ist, weiß sie doch nicht genau, was dieses »etwas« ist. Sie versucht, über den Dingen zu schweben und sich auf ihren ersten Grundsatz zu besinnen: Denk nur ans Tanzen.
Eines Nachmittags kehrt sie von der Probe zurück und findet