Die Tänzerin im Schnee - Roman
Aufführung von
Schwanensee
und war besonders bezaubernd. Auch sie war also eine Berühmtheit gewesen – oder hatte sich zumindest auf dem Weg dorthin befunden. Im dunklen Wald hinter ihr standen fünf andere Schwanenmädchen, die Namenlosen – Drew nahm an, dass sie sich gerade wünschten, eines Tages selbst einmal die Hauptrolle spielen zu dürfen.
Dann fiel ihr etwas auf: sie erkannte noch eine der Tänzerinnen. Eine der »nicht identifizierten«, ein dünnes Mädchen mit langem Hals. Drew sah sich das Bühnenfoto genau an und wandte sich dann noch einmal dem zweiten Schwarzweißbild von Grigori zu, das vor der Datscha aufgenommen worden war. Ja, das war sie, die junge Frau, die Nina Rewskaja als »eine Freundin« bezeichnet hatte. Sie hatten sich anscheinend ebenfalls im Bolschoi-Theater kennengelernt – wobei das dünne Mädchen wohl nicht den gleichen Erfolg wie die anderen beiden gehabt hatte.
Drew kam der Gedanke, dass sie Nina Rewskaja nach dem Namen ihrer Freundin fragen sollte. Dann könnte sie den Leuten, die diese Fotografien archiviert hatten, eine E-Mail schreiben und ihnen sagen, wer das Mädchen war. Dann wäre sie nicht länger nur eine »nicht identifizierte Tänzerin«. Drew war kurz davor, Nina Rewskaja tatsächlich anzurufen. Aber sie traute sich nicht, nicht nachdem sie sie vor ein paar Tagen dermaßen aus der Fassung gebracht hatte. Außerdem hatte sie noch so viel anderes zu erledigen. Und was machte es letzten Endes schon aus, ob irgendjemand den Namen dieses Mädchens erfuhr.
Nina zieht zurück in ihre alte Wohnung, wo sie sich, so gut sie kann, um Mutter kümmert, obwohl sie sich selbst noch von der gerade erfolgten Abtreibung erholen muss. Sie ist froh, dass sie den Eingriff hinter sich gebracht hat, bevor Viktor zurückgekehrt ist, und sich nun in ihrem (mittlerweile Veras) Bett ausruhen kann.
Sie bezahlt Darja dafür, dass sie jeden Tag von Madame aus zu ihr kommt, um ihr beim Kochen und Saubermachen zu helfen. Mutter sieht in ihrem Rock mit den verblassten Blumen darauf so viel dünner und älter aus. Ihr Körper ist matt und ihr Lächeln voller schwarzer Lücken. Die einst so stolzen Schultern sind nun gebeugt von all den mühsamen Wanderungen von Laden zu Laden, vom Schlangestehen vor Geschäften und Ämtern und von ihrem Sitzplatz im Bolschoi-Theater … das Leben einer Mutter, ewige Verpflichtungen. Eine kolossale Anstrengung. Wie die Mädchen, die Nina auf den Straßen arbeiten sieht und die am Ende des Tages auf Lastwagen verladen werden, wo sie, auf Zementsäcken sitzend, nach Hause transportiert werden wie Bretter, Baumstämme oder Metallstangen …
Nina bleibt bis Ende August, als Viktor zurückkehrt und ihr hilft, mit Mutter in ihre gemeinsame Wohnung zu ziehen. Mutter bekommt ihr Bett, er und Nina schlafen auf einer Matratze auf dem Boden. Mutter ist bereits stark geschwächt und verbringt bald den ganzen Tag im Bett. Manchmal scheint sie ihre Umgebung kaum mehr wahrzunehmen und bekommt nur wenig von dem mit, was um sie herum vor sich geht. »Ist es ansteckend?«, fragt Madame, wenn sie – mittlerweile nur noch zu den Mahlzeiten – aus ihrem Zimmer kommt und in der Luft nach Bakterien schnüffelt. Nie lässt sie sich dazu herab, Mutter einen guten Tag zu wünschen. Darja scheint sie ebenfalls vorsätzlich zu ignorieren. Obwohl Nina sie weiterhin zusätzlich bezahlt, weigert Darja sich, über ihre üblichen Aufgaben in Madames Haushalt hinaus auch nur einen Finger zu rühren. Erst nach einer Woche gelingt es Nina, den Grund dafür herauszufinden: Madame hat Darja dazu angewiesen.
In ihr steigt erneut Wut auf – aber sie ist des Kämpfens sowie ihres permanent gärenden Zorns müde. Es ist so unbedeutend und verbraucht doch so viel kostbare Energie. Sie hat immer noch nicht wieder mit Vera gesprochen und fühlt in sich weder die Kraft für eineVersöhnung noch das Bedürfnis danach. Aber als Viktor ihr von seiner Zeit mit Vera in der Datscha berichtet, scheint es, als hätte er überhaupt nichts von einer Meinungsverschiedenheit der beiden mitbekommen. Vera hat ihm offenbar nichts davon erzählt.
»Im Grunde hattest du sogar Glück, dass du nicht geblieben bist. Sonst hättest du dich wieder mit diesem Serge herumschlagen müssen.«
»Ist er wirklich wiedergekommen?«
»Zweimal sogar. Ich kann ihn nicht ausstehen.« Er klingt eifersüchtig. Erst in diesem Augenblick kommt Nina der Gedanke, dass es vielleicht dumm von ihr war, Vera und Viktor dort ganz allein
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