Die Tänzerin im Schnee - Roman
nichts gesehen.«
Viktor klingt verärgert, was wiederum erneut Zorn in Nina aufsteigen lässt. »Weshalb bist du den ganzen Weg dorthin gefahren, wenn du ihn dann nicht einmal sehen konntest?«
»Um Vera hinzubringen. Das habe ich doch schon erklärt. Du weißt ja, dass sie kein Auto hat.« Er entzieht sich ihr und rollt sich auf die Seite.
Nina sagt sich, dass es besser ist, als richtig zu streiten. Und doch fühlt sie sich unbefriedigt. Vielleicht ist Vera nur eine Ausrede. Eine List, die es Viktor erlaubt, … wohin zu gehen? Und was zu tun? Nina erinnert sich an die Zeit, als sie ihn kennengelernt hat, an die hübsche Lilja an seiner Seite und daran, wie gern er sich auch heute noch in der Gesellschaft von Frauen befindet. Selbstverständlich hat ein Mann mit seinem Erfolg viele Bewunderinnen. In Ninas Kopf wirbeln die Gedanken herum, so dass sie unmöglich einschlafen kann. Jeder kommt ihr nun verdächtig vor. Als wäre der Boden unter ihren Füßen nicht länger fest, sondern würde sich ständig verschieben, so dass sie keinen Halt findet und nichts, worauf sie sich stützen kann. Die Zahl der Menschen, denen sie vertraut, nimmt mit jedem Tag ab.
Ein paar Tage nach Drew Brooks’ Besuch kam Cynthia aus der Küche, wo sie die Suppe auf den Herd gestellt hatte, und nahm Ninagegenüber Platz, statt sich wie üblich ihren Zeitschriften oder dem Auktionskatalog zuzuwenden. »Ich habe darüber nachgedacht, was Sie letztens zu der jungen Frau gesagt haben. Über Ihre Freundin. Sie klangen so, als würden Sie gern mal über sie reden.«
Warum konnte diese Frau nicht einfach die Suppe kochen und sie in Frieden lassen?
»Sie hatte ein hartes Schicksal. Sie hat sehr gelitten.«
Seit zwei Tagen verfolgten sie die schlimmen Erinnerungen nun pausenlos. Nina hatte schon den ganzen Tag lang versucht sich abzulenken – sie hatte wieder die Bach-CD eingelegt und langsam ein Buch über Gauguin durchgeblättert, einen riesigen Bildband, dem sie jahrelang keinerlei Beachtung geschenkt hatte, der aber eine Menge prächtig bebilderter Seiten bot, auf die sie ihre Konzentration lenken konnte. Der Schmerz kroch trotzdem in sie. »Manchmal sage ich mir, dass ihr Leid ihre Bestrafung war.«
Cynthia riss die Augen weit auf. »Dann will ich nur hoffen, dass sie auch etwas mächtig Schlimmes getan hat.«
Nina dachte einen Moment darüber nach, dachte an ihren eigenen Körper und wie er sie im Stich gelassen hatte. »Ich glaube, dass uns widerfährt, was wir verdienen. Sehen Sie mich an, in diesem Rollstuhl.«
Cynthia sah erneut überrascht aus: »Ganz egal,
was
Sie getan haben, niemand verdient es, an so ein Ding gefesselt zu sein.«
Diese geradlinige Aussage – anstelle des üblichen voyeuristischen Mitleids – und der leichte Singsang von Cynthias Inselakzent hatten eine merkwürdige Wirkung. Nina begann zu weinen.
»Oh, meine Süße. Hier.« Cynthia beugte sich hinüber und tupfte ein paar der Tränen mit einem Taschentuch ab.
Zu Ninas Verblüffung hörte das Weinen nicht auf. Langsam sagte sie zu Cynthia: »Ich bin grausam zu ihr gewesen.«
»Erzählen Sie es mir nur, wenn Sie es möchten. Wenn es Ihnen danach bessergeht.«
Hätte Nina ihren Kopf schütteln oder ihn niedergeschlagen auf ihre Brust fallen lassen können, dann hätte sie es jetzt getan. Aber der Knoten saß fester denn je in ihrem Nacken. Er war nicht länger der liebevoll gebundene Schal ihrer Großmutter. In diesen Tagen war ereine Schlinge, ein Würgegriff. »Nichts wird es je wiedergutmachen können. Es ist zu spät.«
Cynthia tupfte weitere Tränen ab. »Es ist niemals zu spät. Mein Vater hat immer gesagt, wann immer du denkst, dass du nichts mehr tun kannst, solltest du noch mal drüber nachdenken.«
»Bitte, Cynthia, Sie bringen mich noch um mit Ihrer Gutmütigkeit.«
Cynthia lachte, und wie durch Zauberei löste sich der Knoten in Ninas Nacken ein winziges bisschen. Sie beschloss aber, es Cynthia gegenüber nicht zu erwähnen, damit sie nicht mit noch mehr Binsenweisheiten ihres Vaters daherkam.
Auch nachdem die Proben Ende September wieder begonnen haben, reden Nina und Vera nicht miteinander; wann immer sie sich im Bolschoi-Theater begegnen, wendet Vera sich mit verschämter, beinahe schuldbewusster Miene ab. Nun, sie fühlt sich schließlich ganz zu recht so. Nina kann sich immer noch nicht erklären, weshalb Vera ihr die Krankheit ihrer Mutter so lange verschwiegen hat. Doch es bestätigt den heimlichtuerischen Eindruck, den
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