Die Tänzerin im Schnee - Roman
zu lassen. Sosehr Viktor sie auch lieben mag, scheint ja wirklich niemand Veras Charme gegenüber immun zu sein.
»Wohin ist sie nur verschwunden?«, will Madame eines Tages im September wissen, als sie gerade ihr Zimmer verlassen hat, um etwas von Darjas wässriger Suppe zu sich zu nehmen. »Diese wunderschöne Vera. Ich habe sie nun schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Auch Ninas eigene Mutter vermisst Vera und hat schon mehr als einmal gefragt, wann sie sie besuchen kommen wird. »Sie ist sehr beschäftigt im Moment«, gibt Nina als Erklärung an, obgleich sie eigentlich gar keine Ahnung mehr hat, womit Vera ihre Zeit verbringt, davon abgesehen, dass sie Mutters Wohnung in Ordnung hält und Viktor ab und zu fürsorglich bei ihr nach dem Rechten sieht.
Eines Nachts kommt Viktor nicht nach Hause.
Nina liegt lange wach. Ist es ihm nun auch widerfahren? … Wegen Gersch … Ist etwas Furchtbares geschehen?
Als sie es schließlich wagt, ihre Schwiegermutter zu wecken und zu fragen, ob sie weiß, wohin er gegangen ist, schimpft Madame sie laut und zornig, weil sie ihren Schlaf gestört hat. Dass ihr Sohn noch nicht zurückgekehrt ist, scheint ihr nichts auszumachen.
Als Nina seinen Schlüssel in der Tür und daraufhin seine Schritte im dunklen Zimmer vernimmt, ist es schon beinahe vier Uhr morgens. Sie muss sich zurückhalten, um nicht zu schreien. »Wo warst du? Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut. Sieh dich nur an, du bist ja ganz blass. Was ist denn los?«
»Was los ist? Du kommst erst um vier Uhr nachts nach Hause, sagst mir nicht, wo du warst. Ich dachte, du wärst – ich wusste nicht, was ich denken sollte.«
»Ich habe meiner Mutter Bescheid gesagt, hat sie dir nichts erzählt?« Und dann: »Ich habe Vera zu einem Besuch bei Gersch gebracht.«
Natürlich hat Madame ihr nichts erzählt. Nina bricht in Tränen aus, sie ist zu erschöpft, zu erschüttert, um wirklich wütend zu sein. Viktor nimmt sie in den Arm, flüstert, hält sie fest, alles in Ordnung.
Als sie endlich aufhören kann zu weinen, reibt sie ihr Gesicht an seiner Brust, wischt ihre Tränen an seinem Hemd ab. Sie hasst das Geräusch, das sie beim Schniefen macht. Aber nun, da sie sich beruhigt hat, kann sie wieder klarer denken. »Du hast Vera zu Gersch gebracht?« Leise, um Mutter nicht zu wecken. »Ich dachte, nur Familienmitglieder dürften ihn besuchen.«
»Ja, nun, sie lassen sich überreden.«
Nina zieht die Augenbrauen hoch, als Viktor hinzufügt: »Es gibt offensichtlich Wege, sich hineinzuschummeln.«
Er tritt zurück und lässt sich erschöpft auf einen der Holzstühle fallen. Hat er jemanden bestochen oder irgendwelche Papiere gefälscht? Bei dem Gedanken, dass er sich selbst in Gefahr gebracht hat, wird Nina sofort wieder angespannt. Wenn sie doch nur aufhören könnte, wütend auf ihn zu sein. »Wie geht es Gersch? Ist alles in Ordnung?«
»Vera zufolge ist es nicht allzu schlimm.«
»Du hast ihn gar nicht gesehen?«
Viktor schüttelt den Kopf. »Nur Vera durfte zu ihm. Als ›Familie‹.«
»Familie.« Nina überlegt, was das bedeuten könnte, und setzt sich müde auf den Stuhl neben Viktor. Vielleicht hat es sich ausgezahlt, dass Vera sich mit diesem schrecklichen Serge abgegeben hat. »Ich verstehe immer noch nicht, wie ihr das gelungen ist. Was ist mit Zoja?«
»Anscheinend kommt Zoja dort nicht mehr hin, seit sie einen neuen Direktor haben.«
Nina hebt die Augenbrauen. Was sie und Viktor schon vermutet haben, entspricht also der Wahrheit: Es war gar nicht Gersch, sondern der alte Direktor gewesen, den Zoja immer so dringend besuchenwollte. »Gerade als ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass sie ihn wirklich lieben würde.«
»Vielleicht hat sie das ja auch getan.« Viktor zuckt die Schultern auf eine Art, die sie verärgert. Wie kann Zoja nur so wankelmütig sein? Wie kann die Liebe eines Menschen so einfach von einer Person zu einer anderen wechseln? Als Viktor den Arm um sie legt, lehnt Nina ihren Kopf gegen seinen, um Trost zu finden. Wenn sie doch nur nicht immer noch wütend auf ihn wäre. Wenn sie sich nur entspannen könnte und daran glauben, dass alles in Ordnung ist und dass Viktor sich nicht selbst geschadet hat, als er Vera bei ihrem riskanten Manöver half.
Erst als sie sich hingelegt haben und ihr Kopf an seiner Schulter ruht, fragt Nina, ohne sicher zu sein, ob sie die Antwort wirklich hören will: »Wie war es dort?«
»Ich sagte doch, ich weiß es nicht, ich habe
Weitere Kostenlose Bücher