Die Tänzerin im Schnee - Roman
französische Kaiser hatte es bis zu diesem Tag im Jahr 1809 beinahe geschafft, ihre Heimat an den Abgrund zu führen. Auf dem Kontinent hatte er eine Schlacht nach der anderen gewonnen, und nun versuchte er, England in die Knie zu zwingen. Er verbot allen Ländern, Handel mit dem britischen Empire zu treiben. Zunächst hatte man sich auf den Straßen Londons noch darüber lustig gemacht. Was wollte so ein kleiner Wichtigtuer denn da verbieten?Doch dann lehrte der kleine Wichtigtuer England Mores, denn seine Zöllner schafften es tatsächlich, den europäischen Handel lahmzulegen.
In der Folge blühte der Handel im Verborgenen. Der Schmuggel war ein ebenso spannendes wie lebensgefährliches Unterfangen, für das Madam Harcotte umso weniger Verständnis aufbrachte, als dass sie genau die Waren herstellen ließ, die ursprünglich aus französischer Fertigung stammten und in der vornehmen Welt der Damen heißbegehrt waren: Spitzen für Krägen und Tüchlein – Spitzen so fein wie ein Windhauch.
Ein ganzes Heer von geschickten Häklerinnen bevölkerte Londons Hinterhofstuben, um die unersättliche Adelswelt mit Waren zu beliefern. Von Tüchern über Schleier bis hin zu ganzen Kleidern und Gardinen reichte das Angebot, doch mancher Edle war der Meinung, nur in Brügge oder Gent gebe es die beste Spitze, und suchte nach Wegen, sie ins Land zu schmuggeln.
»Und stellt euch vor, da haben sie gestern wieder so einen Schmuggler erwischt«, drang Madam Harcottes Stimme an ihr Ohr. Penelope horchte auf. »Einen von diesen Dreckskerlen, die mir das Geschäft kaputtmachen. Feine Damen sollte er beliefern. Seide führte er in seinen Kisten mit – ein Mann! Und sein Bruder, der angeblich in Jena gefallen war und dessen sterbliche Überreste er ins englische Grab tragen sollte – ha!« Empört stocherte Madam Harcotte mit der Petroleumlampe in der Dunkelheit herum. »Dieser Bruder bestand aus Brügger Klöppelspitze! Der ganze Sarg war mit Spitze vollgestopft, vom toten Bruder keine Spur! Hat man so was je gehört!«
Keines der Mädchen wagte ein Wort. Man wusste hier nie, ob es willkommen war oder nicht und für welche Reaktion es einen Streich mit dem Rohrstock setzte. Aber sie hörten alle gespannt zu, wie die Geschichte weiterging, während die Madam den Tisch mit ihrer Lampe umrundete.
»Verhaftet haben sie ihn und seinen gottverdammten Schmugglersarg an Ort und Stelle konfisziert. Hängen soll er, hängen, wie alle anderen Schmuggler und Diebe auch! Aber vielleicht …« Ihre Stimme senkte sich gefährlich, Madam Harcotte war eine eloquente Geschichtenerzählerin … vielleicht ergeht es ihm ja auch noch besser.Und sie schicken ihn … sie schicken ihn aufs Schiff! Ha! Dann kann er seine geschmiedeten Fußketten in die Kolonien schmuggeln, wenn ihn nicht die Fische vorher auffressen!« Die Spitzenhändlerin lachte böse über ihren Einfall.
Prudy seufzte. Ihr ältester Bruder war vor einigen Wochen verhaftet worden, nachdem er beim Entwenden eines Hafersackes ertappt worden war. Gleich am nächsten Tag hatte man ihn zum Tod durch den Strang verurteilt. Sein Freund, der den Diebstahl mit ihm zusammen begangen hatte, war begnadigt worden, es hieß, er warte darauf, als Zwangsarbeiter in die Kolonien verschifft zu werden. Wegen der französischen Seeblockade gelang es nur wenigen Schiffen, auf den überwachten Seefahrtsrouten Schlupflöcher zu finden. Napoleons Plan war aufgegangen – der Schiffsverkehr mit dem Rest der Welt war weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Schiffe warteten in britischen Häfen, manchmal viele Wochen lang, bis sich herumsprach, dass wieder jemand eine halbwegs sichere Route nach Süden gefunden hatte.
Penelope rieb sich verstohlen die triefende Nase. Die Geschichte von Prudys Bruder beschäftigte sie immer noch. In düsteren Worten hatte Madam Harcotte von den Gefängnisschiffen unten am Kai berichtet – sie lagen gleich neben den Galgen, die man die dreibeinigen Stuten nannte. Neben den drei hölzernen Beinen war der Gehängte das vierte Bein. Beinahe täglich wurden Diebe und Verbrecher aufgehängt, doch noch immer waren die Gefängnisse überfüllt, daher war man auf den Gedanken gekommen, Schiffe in Gefängnisse umzuwandeln. In beinahe allen großen britischen Häfen gab es riesige Schiffe mit schweren Segeln, die den Himmel verdüsterten. In Ketten gelegte Gefangene pferchte man an Bord und schickte sie dann auf die Reise – doch nicht weiter als bis hinter den Horizont. Mit so viel
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