Die Tänzerin im Schnee - Roman
Schlechtigkeit an Bord konnte so ein Schiff ja nur untergehen, davon war Madam Harcotte überzeugt. Und wenn diese Schiffe doch nicht sanken, dann segelten sie dem französischen Wichtigtuer in die Arme, der sie mit Kanonen beschoss und zur Hölle schickte.
Prudy hatte den ganzen Tag geweint, doch niemand hatte sie getröstet. Trost musste man sich leisten können.
»Du kommst spät«, stellte Mary MacFadden fest, ohne sich nach ihrer Tochter umzublicken. Penelope drückte schuldbewusst den Riegel in die Halterung und zog die Schleife ihres Umhangs auf. Der Haken an der Wand sprang hin und her, als sie den Umhang aufhängen wollte. Das Kleidungsstück fiel auf den Boden..
»Pass doch auf, Kind!«, zischte Mary verärgert. »Über deine Ungeschicklichkeit zerreißen sich schon die Leute das Maul!«
Fröstelnd zog Penelope die Schultern zusammen. »Ich hab für die alte Lou Kohlen getragen«, murmelte sie, in der Hoffnung, die Mutter würde das als Entschuldigung akzeptieren. Lou wohnte mit ihrem räudigen Hund in einem Verschlag hinter dem Schweinestall. Penelope wusste, dass sie Essen aus den Schweinetrögen stahl, um sich und den Hund satt zu machen. Der Hund teilte ihr Lager und hielt sie warm, und vermutlich beschützte er sie auch. Sein Maul war so furchteinflößend, dass wohl niemand wagte, die alte Frau ins Armenhaus zu schaffen. Das Essen aus dem Schweinetrog, behauptete Lou, sei viel besser als der Fraß im Armenhaus. Würde man sie beim Diebstahl an den Trögen erwischen, würde man sie aufhängen.
»Der Strang ist ein gnädigerer Nachbar als der Hunger«, pflegte Lou zu murmeln, wenn Penelope sie um Vorsicht bat, und manchmal hatte es den Anschein, dass sie es geradezu darauf anlegte, erwischt zu werden.
»Lou Herriot hat einen Enkel, der ihr Kohlen tragen kann. Sie braucht meine Tochter nicht.« Mary kannte kein Mitleid. In Southwark gab es kein Platz für Mitleid. Wer aus dem Haus trat und bis zu den Knöcheln in Unrat versank, hatte nur Augen für sich selbst. Southwark schrieb seine heimlichen Gesetze selber – und eins davon lautete: Schau dich nicht um – überlebe!
Der Hunger trieb den Leuten das Mitleid aus. Nicht einmal die Priester glaubten noch, was sie in den Gottesdiensten erzählten, rissen sich doch ihre eigenen hungrigen Kinder die Brotkanten aus den Händen. Penelope hatte es selbst gesehen, als sie ein geflicktes Spitzenband bei Reverend Arnold ablieferte. Der Geistliche hatte wie so oft seinen Kirchenlohn im Rumkeller der Schenke gelassen, während sein hohlwangiges Weib versuchte, die Kinder mit Gebeten ruhigzustellen. Auch der Topf mit den Kirchengeldern war leer, weswegenPenelope das Band wieder in Madam Harcottes Werkstatt zurückgetragen hatte, denn Ware gab es auch für Priester nur gegen Bezahlung.
»Wenn Lous Enkel so ein Herumtreiber ist, hat sie sich das selber zuzuschreiben.« Mary ließ nicht locker. »Man muss eben beizeiten zusehen, dass man zu etwas kommt. Für mich sorgt auch niemand, aber ich habe wenigstens ein paar Münzen beiseite gelegt …«
Sie sah ihre Tochter grimmig an und schwieg, weil sie wusste, wie ungerecht ihre Worte waren. Penelopes Lohn half, die Miete zu bezahlen und Brot auf den Tisch zu bringen. Sie hatten bislang nie hungern müssen – anders als viele andere im Viertel. Ein wenig schämte Penelope sich ihrer Verbitterung.
Mary war die einzige unverheiratete Frau in der Gasse. Sie kam aus Schottland, aus einem Kaff, von dem niemand je gehört hatte – und sie hatte ein Kind mitgebracht, über dessen Vater sie nie sprach. Nur große Trauer oder ein düsteres Geheimnis konnten hinter ihrem Schweigen stecken, darin waren sich die Leute einig. Und so tratschte man zwar ein wenig, aber man wagte es nicht, sich über Mary lustig zu machen. Man brauchte sie und ja, hatte wohl auch ein wenig Angst vor ihr. Mary kannte sich mit Wunden und Krankheiten aus, und sie stand wie keine andere Hebamme den Frauen im Kindbett bei. Manche sagten ihr nach, sie habe ihre Kunst beim Teufel gelernt, denn eine Tasche mit Gerätschaften, wie sie nur ein Arzt verwendete, befand sich in ihrem Besitz, und für solche Dinge müsse man schon seine Seele verkauft haben. Die Wahrheit darüber hätte nur jener Doktor im St. Mary’s Hospital in Manchester gewusst, dessen Lieblingsschülerin sie einst gewesen war.
Mary hatte äußerst geschickte Hände und nahm weniger Geld als die Doktoren. Trotzdem riefen die Schwangeren aus den feineren Vierteln lieber
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