Die Tänzerin im Schnee - Roman
wobei an seinem Unterkiefer mehrere Zahnlücken sichtbar wurden. Dennoch wirkte er, als er lächelte, noch einmal jünger als zuvor, ein junger alter Mann. Er hievte sich auf den Sitz, und sie bemerkte seinen Geruch. Er rochnach Arbeit und ungewaschenen Kleidern, aber da war noch ein stärkerer Duft, einer, den Riitta in der Stadt schmerzhaft vermisste: der Duft nach Laub, Heu und Erde. Er musste seine Nächte unter freiem Himmel verbracht haben.
Der Mann nickte freundlich und dankte ihr mit einem starken Akzent in der Stimme. Also war er doch nicht schwerhörig, sondern ein Ausländer. Riitta stellte überrascht fest, dass er trotz seiner vielen Falten gutaussehend war. »Jemand hat dich ziemlich übel zugerichtet«, sagte sie.
Er blickte sie hilflos an und stammelte: »Ich Finnisch sage nicht gut.« Dann zuckte er entschuldigend die Schultern. »Russe.«
Ein Russe. Ein Feind. Bis vor kurzem jedenfalls – einer von Riittas Onkeln war im Winterkrieg gefallen.
Aber dieser Mann sah gar nicht aus wie ein Feind, eher wie eine müde verlorene Seele. Riitta versuchte es auf Englisch. Das hatte sie in der Schule gelernt und beherrschte es ganz gut. Der Mann nicht. Vielleicht war er ein geflohener Sträfling. Aber dann hätte er schon einen sehr weiten Weg hinter sich …
Auf Finnisch und mit Händen und Füßen fragte sie: Wie bist du ausgerechnet hierhergekommen?
Er verstand ihre Frage, und zur Antwort zeichnete er Eisenbahnschienen in die Luft und machte Lokomotivgeräusche. Riitta sagte ihm das Wort für Zug, und er erkannte es, sagte: Ja, Zug. Aber warum war er hier? Er schüttelte nur den Kopf. »Ich sehr schmutzig, entschuldigen«, sagte er.
Sie nahm ihn mit nach Hause und gab ihm Essen. Die herzhafte Mahlzeit ließ ihn wieder ein Stück jünger werden; er schien jetzt um die vierzig zu sein. Sein dünnes graues Haar hatte noch schwarze Strähnen. Riitta nahm ihn mit, als sie sich daranmachen wollte, die Ferkel zu kastrieren.
Seit sie von zu Hause ausgezogen war, arbeitete sie nur unregelmäßig auf dem Hof und war stolz darauf, die Handgriffe nicht verlernt zu haben. Die Ferkel waren noch klein und niedlich, und einen Moment lang fragte sie sich, ob ihr Geschrei dem Russen etwas ausmachen würde. Aber offenbar tat auch er so etwas nicht zum ersten Mal, war auch er auf einem Bauernhof aufgewachsen, denn er überraschtesie damit, ihr zur Hand zu gehen. Erst später, als sie daran zurückdachte, wurde ihr klar, wie grausam es gewesen war, ihn in diese Arbeit einzubeziehen – einen Mann, der selbst durch die Ereignisse der letzten Jahre gleichsam kastriert worden war, der seine Männlichkeit vorübergehend eingebüßt hatte.
Sie sammelte die herausgeschnittenen Hoden für das Abendessen. Inzwischen hatten sie sich einander vorgestellt. Der Mann hieß Trofim. Er verlor kein Wort darüber, wo er gewesen war, aber Riitta konnte es sich vorstellen. Außerdem stellte sich heraus, dass er Finnisch weit besser verstand, als er es sprach. Sie lud ihn ein zu bleiben, trotz der Bedenken, die ihre Eltern hatten. Er nahm ein Bad, rasierte sich und lieh sich Kleidung, die Riittas Bruder zurückgelassen hatte, als er nach Turku ging. Damit begann, was Riitta später immer seine Wiedergeburt nannte: Mit zu großen Hosen und flatternden Hemdsärmeln, mit rosigen, frisch rasierten Wangen kam er aus der Waschkammer und war sichtlich erleichtert, endlich wieder sauber zu sein. »Ein echtes Arbeiterklassengesicht«, sagte sie dann gern, eine Formulierung, die Drews Mutter immer wieder aufbrachte. »Gutaussehend, wenn auch ziemlich rau. Man sah gleich, der Mann hatte es nicht leicht gehabt im Leben.«
Der zweite Schritt seiner Wiedergeburt vollzog sich beim Abendessen, als allmählich, wie die behutsam von einem Archäologen mit dem Pinsel freigelegten Knochen eines alten Skeletts, die Eigenarten seines Charakters zu Tage traten.
Er hatte Humor. Dass das möglich war, nach allem, was er durchgemacht haben musste, verblüffte Riitta genauso wie die Entdeckung, dass es keiner Worte bedurfte, es zu beweisen. Kaum dass er sich mit Riitta und ihren Eltern zu Tisch gesetzt hatte, brachte Trofim sie alle zum Lachen. Sein erster Witz hatte mit den Hoden zu tun, und er machte ihn nur mit Hilfe von Gesichtsausdrücken, aber was Riitta da zum ersten Mal sah, sollte sich später als der Kern seiner ganzen Persönlichkeit herausstellen.
Sie nahm ihn mit in ihre Stadtwohnung. Er hatte keine andere Möglichkeit unterzukommen. Es dauerte nur
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