Die Tänzerin im Schnee - Roman
seinen kurzen Flügeln.
»Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist«, sagt Nina sehr laut. Der Vogel hat gerade, ganz entgegen den Gewohnheiten seiner Art, damit begonnen, an dem ausladenden Rock der Dame hochzuklettern. Er zieht sich mit dem Schnabel hoch und setzt die Krallen nach, die sich dabei immer wieder leicht im Stoff verhaken. Nina, die sich jetzt ganz an das Dämmerlicht gewöhnt hat, erkennt, dass das ganze Kleid von Ziehfäden übersät ist.
Jetzt beginnt die Gestalt schleppend und müde zu sprechen. »Du bist nicht Lilja.«
»Ich bin … Viktor muss Ihnen doch …«
»Eurer Exzellenz!«
»Er muss … Eurer Exzellenz doch gesagt haben …«
»Ich bin Madame Jekaterina Petrowna Elsin, Ehefrau Seiner Exzellenz Alexei Nikolajowitsch Elsin«, erklärt sie in stolzem, beleidigtem Ton. »S’il vous plaît.« Nina hört an einem rasselnden Geräusch, dass immer noch Schleim in der Lunge der alten Dame festhängt. Der Vogel hat sich mittlerweile bis zu ihren Knien hochgehangelt. Schon wird sie wieder von einem Hustenanfall geschüttelt.
Als die Frau sich keuchend vornüberkrümmt, eilt Nina zu ihr und klopft ihr auf den Rücken – nicht zu fest, falls sie empfindliche Knochen hat. Vorsichtig und doch beherzt klopft sie weiter, bis sich der Husten etwas gelöst hat. Wieder das rasselnde Geräusch. Sobald der Anfall abgeklungen ist, holt die Frau keuchend Atem und ruft lauter, als Nina es ihr je zugetraut hätte: »
Nicht
mein Haar berühren!«
»Ich habe doch …«
»S’il vous plaît!«, kräht der Vogel und schlägt auf dem Busen der Frau vergeblich mit den Flügeln.
»Niemand darf mein Haar berühren!«
Nina tritt einen Schritt zurück. »Ich wollte nur …« Aber sie vermutet, dass eine Erklärung ohnehin nichts nützen würde. »Es tut mir sehr leid … Madame. Ich lasse Sie jetzt allein.«
Rückwärts zieht sie sich von der Person zurück, die da turmgleich, von ausgebleichten Vorhängen eingerahmt, in ihrem Sessel thront. Der Vogel lärmt, als sie erneut zu husten anfängt, weniger schlimm diesmal, und bevor Nina die Tür schließt, wirft sie noch einen letzten Blick zurück: Der Vogel sitzt jetzt still auf ihrer Schulter und legt den Kopf schief, als wollte er nichts von dem verpassen, was seine Besitzerin von sich gibt.
Wenig später ist Viktor wieder da. Als Nina ihm erzählt, was geschehen ist, sagt er, sie solle sich keine Sorgen machen. »So ist sie eben. Und der Husten kommt und geht. Es tut mir leid, dass eure erste Begegnung so unangenehm war.«
Nina runzelt die Stirn und zieht die Augenbrauen hoch. »Sie schien enttäuscht zu sein, dass ich nicht … Lilja bin.«
»Ach,
darum
musst du dir nun wirklich keine Sorgen machen.« Er lacht angestrengt und versucht es mit einem Scherz. »Meine Mutter hat nun mal eine Schwäche für junge Damen aus Leningrad.«
Nina wendet den Blick von ihm ab – aber die andere, bedrohlichere Frage brennt ihr immer noch auf der Seele. Fast flüsternd sagt sie: »Sie wollte, dass ich sie Ihre Exzellenz nenne.«
Viktor schließt einen Moment lang die Augen. Er bemüht sich um ein Lächeln. »Tja, mit ›Genossin‹ hat sie sich nie so recht anfreunden können.« Dann blickt er Nina so ernst an, wie sie es noch nie an ihm gesehen hat, selbst in jener Nacht, als er um ihre Hand anhielt. »Da du bald meine Frau sein wirst, wird es Zeit, dir die volle Wahrheit zu sagen. Mein Vater war Soldat in der Leibgarde des Zaren.«
Nina nickt nur leicht, als hätte sie davon schon gewusst.
»Genauer gesagt war er Admiral«, fährt er leise fort. »Und der Vater meiner Mutter war ein erfolgreicher Bankier. Ihr Bruder ebenfalls. Beide wurden schon in den ersten Tagen der Revolution erschossen. Dann starb auch mein Vater, kurz nachdem meine Mutter bemerkt hatte, dass sie in anderen Umständen war.«
Nina sieht Viktor aufmerksam an und fragt sich, wer außer ihr noch von alledem weiß. Ebenso leise, aber bestimmt sagt sie: »Du kannst ja nichts dafür, wer deine Eltern waren.«
Viktor senkt den Kopf, dann sieht er wieder hoch. »Meine Mutter war fast vierzig Jahre alt, als sie mit mir schwanger wurde. Alle, die ihrnahestanden, waren getötet worden oder auf der Flucht; fast alle ihre Bekannten verließen das Land.«
»Warum ist sie nicht geflohen?«
»Sie ist eine dickköpfige Person, wie du ganz sicher selbst noch merken wirst. Vielleicht hat sie damals nicht wirklich begriffen, was um sie herum geschah. In gewisser Weise hat sie das bis heute nicht.
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