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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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flachen grauen Steinstufen zum Athenäum hinaufstieg, dachte sie darüber nach, dass vielleicht ihr Sinneswandel in jener ersten Bibliothek das erste Anzeichen dafür gewesen war, was später aus ihr werden würde, das erste Zeichen ihrer Vorliebe für alte, übersehene, schwer aufzuspürende Details.
    Zum Glück hatte das Auktionshaus für seine Angestellten eine Gruppenmitgliedschaft abgeschlossen, und die Bibliothekarin hatte das gesuchte Buch schon für Drew bereitgestellt.
Russisches Gold und Silber
. Lenore hatte es gar nicht gekümmert, als Drew ihr sagte, dass ihr hauseigenes Exemplar verschwunden war; sie fand, sie hätten auch so genug Informationen beisammen. Dennoch nahm Drew jetzt das Buch mit in den Lesesaal – einen schweren, querformatigen Bildband, der mit seinem glänzenden Einband einer dicken glasierten Kachel glich – und setzte sich zu zwei älteren Herren, beide in Tweedjackett und Fliege, die kaum von ihren Zeitschriften aufblickten. Voller Zuversicht machte sie es sich in einem Ledersessel gemütlich. Wenn das Bernsteinset tatsächlich im Familienbesitz von Nina Rewskajas Ehemann gewesen war und wenn es Drew gelang, das Entstehungs- oder das Kaufdatum etwas einzugrenzen, vielleicht … Dann wiederum fragte sie sich, ob Nina Rewskaja die Wahrheit gesagt hatte. Erst hatte sie behauptet, sie wüsste nicht, woher der Schmuck stammte, und dann im Interview plötzlich von der Familie ihres Ehemanns erzählt. Nun, es war nicht das erste Mal, dass Drew von Kunden widersprüchliche Informationen bekommen hatte.
    Drew konsultierte das Inhaltsverzeichnis und schlug weit hinten im Buch das Verzeichnis der »Stadtpunzen vor 1899« auf. Zwei Seiten voller Abbildungen von Wappen und Helmkleinodien von Astrachan (eine spitz zulaufende Krone, die über einem waagerechten Säbel zu schweben schien) bis Ziwilsk (ein stilisierter Eichenbaum mit ornamental geschwungenen Ästen). Die gestempelten Abbildungen waren mit ihrer oftmals zerlaufenen Tinte ebenso schwer zu erkennen, wie es ein Abdruck in Silber oder Gold gewesen wäre. Das Wappen von Irkutsk sah aus wie eine Katze mit einem toten Tier im Maul, und auf dem von Kasan schien eine gekrönte Ente abgebildet zu sein. Für Moskau waren zehn verschiedene Punzen abgebildet, die erste von 1677, und auf den meisten war ein Ritter auf seinem Pferd im Profilzu sehen. Mal blickten beide nach rechts, mal nach links, aber keins der Bilder ähnelte dem auf Nina Rewskajas Armband und Grigori Solodins Kettenanhänger mit der Nummer »84« daneben – die Prägungen auf den Ohrringen waren nicht mehr zu erkennen gewesen.
    Drew hielt inne und spürte, wie ihre Gedanken zu driften begannen. Sie fragte sich, wie Moskau zu jener Zeit ausgesehen haben mochte. Nicht, dass sie wusste, wie es jetzt aussah. Aber sie hatte sich vorgenommen, die Heimat ihres Großvaters mütterlicherseits irgendwann zu besuchen, den ihre Mutter nie kennengelernt hatte. Er war kurz nach ihrer Geburt gestorben, nach zwei Jahren, die Grandma Riitta später die glücklichste Zeit ihres Lebens nannte. Drew hatte diese Geschichte so oft gehört und konnte sie sich so lebhaft vorstellen, als sei sie ein Film, den sie wieder und wieder gesehen hatte.
    An jenem Wochenende war Grandma Riitta wie immer pflichtbewusst in das Dorf ihrer Eltern zurückgekehrt. Als Dreißigjährige galt sie dort längst als alte Jungfer. Sie lebte seit zehn Jahren als Labortechnikerin in Helsinki, besuchte ihre Eltern aber so oft wie möglich und bemühte sich jedes Mal, sich nicht darüber zu ärgern, dass sie bei jedem Besuch sofort zu der Person wurde, für die man sie dort hielt: eine schwierige, ungeduldige junge Frau, durchaus hübsch, aber zu alt und zu eigen für die Männer, mit denen sie aufgewachsen war.
    Es war Frühling. Sie hatte gerade die Post vom Postamt abgeholt und war im dreirädrigen Familienwagen auf dem Weg zurück. Es hatte geregnet, und die Straße war aufgeweicht. Vor ihr schlurfte ein alter Mann am Wegrand entlang, und sie lehnte sich aus dem Fenster, um ihn anzusprechen.
    »Wohin, Onkel? Soll ich dich mitnehmen?«
    Der Mann blickte zu ihr auf, und Riitta erkannte, dass er gar nicht so alt war, wie sie geglaubt hatte. Aber sein Rücken war krumm und seine Kleidung ausgeblichen. Er schien sie nicht zu verstehen.
    Etwas lauter rief sie: »Deine Stiefel sind schon ganz verdreckt, Onkel. Los, hüpf rein!« Sie klopfte mit der Hand auf den Beifahrersitz.
    Der Mann sah sie verblüfft an und lächelte dann,

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