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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Kathedrale, die wie eine andere Welt nah und unerreichbar vor ihnen aufragte.

 
    Los 28
    Ungefasster, farbiger Diamant, Altschliff, gelbe Färbung, 1,85 ct.,
10000 –15000 Dollar

KAPITEL 6
    I n seinem Traum kam der Brief per Eilboten, ein dicker weißer Umschlag wie aus einem Comic mit einem Geschenkband drum herum. Nur Grigoris Name stand darauf, kein Absender. Die Handschrift war etwas zittrig, wie die eines älteren Menschen. Das schien Grigori ganz normal, als hätte er nichts anderes erwartet, als hätte er schon immer gewusst, dass dieser Brief kommen würde. Dennoch öffnete er das Geschenkband langsam, wie um seine Aufregung zu verbergen. Selbst im Traum wollte er diesen Augenblick der Hoffnung und Vorfreude so lange wie möglich auskosten. Er öffnete den Umschlag mit dem silbernen Briefmesser, das Christines Schwester ihnen aus dem Shaker-Museum mitgebracht hatte. Der Briefbogen rutschte heraus, und Grigori faltete ihn eilig auf, wenn auch ruhiger, als er es im wirklichen Leben getan hätte.
    In dem Brief stand nichts, kein einziges Wort. Stattdessen klebte in der Mitte der Seite, direkt neben dem Falz, wie ein dicker schwarzer Tintenklecks eine zerquetschte Spinne auf dem Papier.
     
    Im Winter, wenn die Luft zu kalt war, um joggen zu gehen, machte Drew lange Spaziergänge am Charles River. Sie betrachtete gern seine wechselnden Oberflächen: gekräuselt, glatt, wellig oder aufgewühlt. Bei gutem Wetter war der Fluss von den weißen Dreiecken der Segelboote gesprenkelt und morgens oft von kreisenden und gleitenden Möwen. Dann wieder bot seine metallisch dunkelgraue Oberfläche einen bedrohlichen Anblick. Nachts wippten die bunten Lichter der Stadt auf seinen Wellen.
    Heute, an einem frostigen, windstillen Nachmittag, spiegelte die matte Oberfläche den Schnee in blassem Grauweiß mit nur einem Hauch von Blau. Drew lief zügig am Ufer entlang und führte ab und zu die behandschuhten Hände zum Gesicht, um weiße Wölkchen auf ihre Fingerspitzen zu pusten, als könnte sie sie so davor bewahren, taub zu werden. Sie genoss die frostige Luft auf ihrer Haut, mochteihre kalte Klarheit, eine Erinnerung daran, wie das Leben eigentlich war: herrlich intensiv und manchmal schmerzhaft. Auf der Höhe der Embankment Road bog sie vom Uferweg ab und stieg die Treppen des Überwegs hoch, der den Storrow Drive überquerte. Von dort lief sie an der Nordseite des Public Garden entlang bis zur äußersten Ecke des Common. Ihre Mittagspause war schon fast zu Ende, aber sie hatte etwas Geschäftliches zu erledigen.
    Früher, zu Beginn ihres Studiums, hatte schon der bloße Gedanke an Bibliotheksrecherchen bei ihr Beklemmungen ausgelöst. Irgendwie hatte sie es sogar geschafft, das ganze erste Semester über keinen Fuß in das imposante, kathedralenartige Gebäude zu setzen, das den baumbestandenen Campus ihres College krönte. Man hatte ihr Schauergeschichten von labyrinthischen Gängen, steilen Wendeltreppen, Turmzimmern und abgelegenen Erkern erzählt, zu denen aus welchen Gründen auch immer nur der hagere Albino aus ihrem Wohnheim die Schlüssel besaß. Aber als für ein Geschichtsseminar im zweiten Semester die Lektüre von Primärquellen gefordert war, konnte sie die Bücherei nicht mehr länger meiden, und während einer Übung zur Entwicklungspsychologie im zweiten Studienjahr besuchte sie regelmäßig ihre tiefen, niedrigen Kellerräume, um dort lange bewegliche Regale mit einer Kurbel zusammen- und wieder auseinanderzuschieben. Im dritten Studienjahr schließlich, als sie noch einmal ihr Hauptfach gewechselt hatte, um wieder Kunstgeschichte zu studieren, begann sich etwas zu verändern. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, sich die Hände waschen zu müssen, wenn sie abgegriffene Bücher aus dem Handapparat gelesen hatte, und zuckte nicht mehr zurück, bevor sie einen staubigen Bildband aus dem Regal für Sonderformate zog. Die Schatzsuche durch die langen, dunklen Gänge begann ihr zu gefallen, die Erkundungstouren zu den oberen Galerien und in die verwinkelten äußersten Ecken des Gebäudes, wo Reproduktionen von Japanischen Drucken aus dem fünfzehnten Jahrhundert untergebracht waren. Bald fand sie die Suche selbst ebenso befriedigend wie die Entdeckungen, die darauf folgten, und wie das Staunen der Mitarbeiterin am Ausleihtresen darüber, dass sie bei diesem oder jenem Band die erste Leserin seit fünfunddreißig Jahren war.
    Während sie jetzt am State House mit seiner goldenen Kuppel vorüberliefund die

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