Die Tänzerin im Schnee - Roman
eine Woche, da hatte er Arbeit in einer Abfüllerei. Etwas länger dauerte es, bis er sie zum erstenMal küsste, ganz plötzlich, als er eines Abends von der Arbeit heimkam.
Einer der Männer in Tweedjacketts räusperte sich vernehmlich. Drew schreckte auf, merkte, wo sie war, und erinnerte sich daran, weswegen sie hergekommen war. Sie blickte in das dicke Buch auf ihrem Schoß und fand die Stadtpunzen für Moskau wieder, die sie gerade durchgesehen hatte. 1783 … 1846 … ah, da war endlich das Bild, das sie auf dem Bernsteinschmuck entdeckt hatte: Links die Zahl 84 und daneben ein nach links blickender Ritter. Genau so sah es aus.
Dem dazugehörigen Text zufolge war dieses Zeichen von 1880 bis 1898 benutzt worden. Genau in der Zeitspanne, die Lenore schon vor Wochen geschätzt hatte, ohne überhaupt ein Buch nötig zu haben.
Drew hatte sich so sehr gewünscht, den Herstellungszeitraum weiter eingrenzen zu können. Aber nicht einmal dieses Buch half ihr dabei. Drew bemühte sich, das Ganze positiv zu sehen: falls es ihr tatsächlich gelingen sollte, die Kassenbücher des Herstellers aufzutun, war es durchaus möglich, zwanzig Jahrgänge durchzublättern. Sie schob ihre Enttäuschung beiseite, brachte das Buch zum Tresen zurück und machte sich auf den Weg in ihr Büro.
Nina sitzt bei Viktor zu Hause am Tisch, ungefähr eine Woche vor dem geplanten Hochzeitstermin. Sie ist zum ersten Mal tagsüber in seiner Wohnung, und sie ist gekommen, um seine Mutter kennenzulernen, die gerade ihren Mittagsschlaf hält. Viktor ist draußen auf dem Flur in ein Gespräch mit Leuten aus dem Hausverwaltungskomitee verwickelt. Dem Klang ihrer Stimmen ist anzuhören, dass die Diskussion noch eine Weile dauern wird. Nina nippt allein an ihrem lauwarmen Tee und sieht sich in dem einfach möblierten Zimmer um, das Viktor seit drei Jahren bewohnt. Wie bei ihr zu Hause sind die Dielen orange gestrichen, um den Teppich zu ersetzen. Aber hier gibt es an der Wand zum Flur einen Küchenschrank, einen tragbaren Ofen und ein breites Regal mit Geschirr und Töpfen. In der Ecke daneben steht ein Diwan und an der Wand zum Nachbarzimmer das Bett, das sie mit Viktor teilen wird, und eine große Schiffstruhe. An der Fensterwand gibt es einen niedrigen Sessel, einen Klapptisch und einen Wäscheständer, auf dem Viktors Socken hängen und dasdarunter ausgelegte Zeitungspapier nasstropfen. Und daneben, vor der Sperrholzwand, die Viktor gebaut hat, um seiner Mutter ein eigenes Zimmer zu schaffen, stehen ein hoher hölzerner Kleiderschrank und eine schmale Kommode.
Jetzt ist auf der anderen Seite dieser Wand ein lautes Husten zu vernehmen. Es ist das erste Mal, dass Nina von dort überhaupt etwas hört, und ihr wird klar, wie gründlich sie bei ihren bisherigen Besuchen nach und nach verdrängt hat, dass Viktors Mutter tatsächlich dort lebt.
Es ist ein bedrohliches, ersticktes Husten. Nina stellt ihre Tasse ab. Das Husten nimmt kein Ende, es wird schlimmer, dann noch schlimmer, und dann, ganz plötzlich, ist es vorbei.
Nina sieht zaghaft zu der hölzernen Tür hinüber. »Ist alles in Ordnung?«
Keine Antwort.
Nina wartet noch einen Augenblick, dann steht sie auf und legt ein Ohr an die Tür. Sie lauscht, hört aber nur ihren eigenen Herzschlag. Sie macht einen Schritt in Richtung Flur, um Viktor zu holen – aber was, wenn dafür keine Zeit mehr ist? Was, wenn Viktor kommt, die Tür öffnet, und seine Mutter … Wer weiß, was dort drin gerade geschehen ist.
Sie klopft an die Tür.
Nichts.
Glücklicherweise fällt ihr ein, dass Viktors Mutter schwerhörig ist,
vorsätzlich ertaubt, sozusagen.
Sie klopft, so laut sie kann.
»Ja?«
Nina ist erleichtert. Das Husten beginnt von neuem und ebbt wieder ab. Als sie die Tür öffnet, schlägt ihr ein unangenehmer Geruch entgegen. Sie sieht hinein.
In einem Sessel vor dem Fenster sitzt eine Frau in einem langen dunklen Kleid. Schimmernder Satin wallt bis zu ihren Knöcheln hinab. Im Gegenlicht ist sie kaum mehr als ein dunkler Umriss, aber als Ninas Augen sich allmählich an das Dunkel gewöhnen, erkennt sie, dass die Frau ihr Haar zu einem dicken Knoten aufgetürmt trägt, dass ihr Kleid dunkelblau ist und ihre rauledernen Schuhe alt und abgetragen.
Und dann entfährt ihr ein Schrei.
Auf einem Fuß der Dame sitzt eine kleine Ratte. Nein, keine Ratte, stellt Nina fest, es ist ein Vogel, der ihren Aufschrei mit einem Krächzen erwidert, mit leuchtend grün-weißem Gefieder und blauen Tupfen auf
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