Die Tänzerin im Schnee - Roman
Gefühl des Verlusts heraus.
»Habe ich dir weh getan?«
Sie schüttelt den Kopf. »Es ist nur … Ich wollte damit warten, bis ich verheiratet bin.« Sie kommt sich lächerlich vor, weil sie das nicht früher gesagt hat.
»Dann lass uns heiraten«, sagt Viktor nur.
Er wird plötzlich sehr ernst, kniet sich vor sie hin und ergreift ihre Hand. Leise und feierlich bittet er sie, seine Frau zu werden.
Nina lacht laut auf.
»Ich wusste gar nicht, dass das so ein komischer Gedanke ist.«
Sie entschuldigt sich, muss aber zu ihrem eigenen Entsetzen immer noch lachen. Nach so vielen Jahren im Ballett kann sie nicht anders, als in Viktors Pose die übliche überzogene Pantomine durchschimmern zu sehen. »Du kennst doch diese Szenen«, versucht sie zu erklären. Mit übertriebenem Ernst rezitiert sie: »Ich werde dich immer lieben«, berührt mit den Fingerspitzen ihre Brust, streckt eine geöffnete Hand vor und presst dann beide Hände auf ihr Herz. Dann mit höherer Stimme und flehentlich ausgestreckten Armen: »Aber wenn du mich verlässt?« Ein expressives Kopfschütteln: »Ich werde dich niemals verlassen.« Wieder die hohe Stimme: »Versprich es mir!«
Viktor ergreift ihre beiden Hände und legt sie mit großer Geste an sein Herz. Ausdrucksvoll verkündet er: »Ich verspreche es.« Dann beißt er sie zur Bekräftigung ins Ohr.
Und doch ist Nina beim Klang dieser Worte erschüttert darüber, wie bedeutend sie sind, wie unverzichtbar dieses Versprechen ist und wie ernst, wie viele Ängste und Sorgen es in sich birgt. Sie entzieht sich Viktor, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr zittert die Stimme, als sie ihrerseits sagt: »Ich verspreche es.«
Schnell fügt Viktor noch hinzu: »Aber ich kann meine Mutter nicht alleinlassen.«
Nina drückt seine Hand. »Es ist ohnehin vernünftig, wenn ich hier wohne, so nah am Bolschoi.«
Als er sie an diesem Abend nach Hause begleitet, ist es noch später als üblich. Nina schleicht auf Zehenspitzen in ihr Zimmer zurück und setzt sich auf den Bettrand ihrer Mutter, die im Schlaf tief und ruhig atmet. »Wach auf«, flüstert sie und berührt sie an der Schulter. »Es gibt gute Neuigkeiten.« Ihre Mutter klingt heiser, als sie ins Licht blinzelt und fragt: »Was für gute Neuigkeiten?«
Nina setzt zum Sprechen an, aber statt der Worte dringt ein Schluchzen aus ihrer Kehle. Besorgt setzt ihre Mutter sich im Bett auf und wischt mit rauen Händen ihre Tränen fort. Dann umarmt sie Nina, wie nur sie es kann, so warm und so nah, nur durch ein dünnes Nachthemd von ihr getrennt. Deshalb weint Nina, weil sie das hier hinter sich lassen wird: den bettwarmen Geruch von Mutters Haar, den Abdruck des Kissenbezugs auf ihrer Wange, das sanfte Schlurfen ihrer Lederpantoffeln auf dem Holzfußboden. Ihre Mutter, die ihr das Leben geschenkt und ihre eigenen Hoffnungen und Träume in ihre Zöpfe eingeflochten hat. Die immer da ist, wenn Nina nachts nach Hause zurückkehrt, immer hier in diesem Bett schläft und wartet. Es dauert mehrere Minuten, bis Nina sich gefangen hat und sagen kann: »Ich werde heiraten.«
Die Trauung findet an einem sonnigen Frühlingstag statt. Die ganze Stadt scheint zu neuem Leben zu erwachen. In den Alleen werden junge Ahornbäume gepflanzt, und die Milizionäre haben ihre dunklen Wintermäntel gegen weiße Baumwolljacken eingetauscht.
Viktors Mutter ist nicht dabei, und das ist Nina nur recht. Sie sind sich erst ein Mal begegnet, und diese Begegnung war nicht besonders angenehm. Aber daran denkt sie gar nicht, als ihre eigene Mutter und Gersch sie zum Standesamt begleiten. Ihre Mutter hat Viktor liebgewonnen, seit sie sich vor zwei Monaten kennengelernt haben. Nina trägt ein neues Gürtelkleid und weiße Calla-Lilien aus Lettland. Viktor hat in die Brusttasche seines guten Anzugs ebenfalls eine Lilie gesteckt.
Eheringe haben sie nicht. Die es im Mostorg zu kaufen gibt, sind alle schlecht eingefasst, selbst die mit wertvollen Steinen, deshalb hat Nina Viktor gebeten, keinen davon zu kaufen. Stattdessen schenkt er ihr eine ovale, in Gold gefasste Brosche, eine Kamee aus Lavagestein. Sie stellt keine Büste dar, wie Nina beim näheren Hinsehen feststellt, sondern die Türme der Basilius-Kathedrale. Das winzige Bild ist bis ins Detail exakt ausgeführt, mit all ihren absonderlichen, kunstvollen und perfekten Zwiebelkuppeln. So erfährt Nina, dass auch Viktor sich an ihre nächtliche Autofahrt erinnert, an den glitzernden Schnee und die irreale Schönheit der
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