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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Eigentlich hat sie es nur einer Bediensteten ihrer Familie zu verdanken, dass sie noch lebt. Diese Haushälterin hatte schon seit Jahrzehnten bei ihren Eltern gedient und kannte meine Mutter seit ihrer Geburt. Sie war unfassbar loyal. Meine Mutter tat ihr leid, also versteckte sie sie und meine Großmutter und Tante in einer Isba im Wald. Dort wurde ich geboren. Deshalb sage ich immer, meine wahre Heimat seien die Wälder. Wir blieben nur ungefähr ein Jahr lang dort, aber diese Welt da draußen liegt mir bis heute im Blut. Das habe ich auch meiner Großmutter zu verdanken. Sie hat mich großgezogen. Sie musste es tun, denn meine Mutter konnte es nicht. Sie war es selbst so sehr gewohnt, bedient zu werden, weißt du. Und dann der Schock, ihren Ehemann zu verlieren, so kurz nachdem sie erfahren hatte, dass sie schwanger war. Das war zu viel für sie. In gewisser Weise hat sie sich davon nie ganz erholt.«
    »Aber deine Großmutter schon?«
    »Sie war ganz anders veranlagt. Sie versuchte, das Beste aus ihrer Situation zu machen, zum Beispiel, indem sie sich um mich kümmerte.«
    »Und deine Tante?«
    »Sonja. Sie hat den Umbruch bewältigt, so gut sie eben konnte, und als Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen gearbeitet. Sie und meine Mutter sprachen beides fließend. Von Sonjas Einkommen haben wir alle gelebt, wenn auch ziemlich kümmerlich im Vergleich zu dem Standard, mit dem die beiden aufgewachsen waren.« Viktor atmet tief durch. Er wirkt erleichtert, ihr die Wahrheit gesagt zu haben, und Nina begreift, wie belastend es sein muss, selbst die grundsätzlichsten Dinge über die eigene Familie zu verheimlichen. Sie selbst hat sich längst daran gewöhnt, nie ihren Onkel im Gefängnis zu erwähnen. Aber bei Viktor umfasst das Schweigen alles, seine gesamte Herkunftsgeschichte. Er könnte sogar wegen »Verschleierungder sozialen Herkunft« verhaftet werden. Vielleicht, denkt Nina, hat Viktor jene Sperrholzwand nicht nur aus Fürsorge für seine Mutter errichtet, sondern auch, um sie vor dem Rest der Welt zu versteckten.
    »Wie ging es dann weiter?«
    »Eine Zeitlang konnten wir wieder im Haus ihrer Familie wohnen. Natürlich lebten da inzwischen auch viele andere. Wir mussten uns in einem ehemaligen Dienstmädchenzimmer einrichten, und …« Er bricht ab, und Nina sieht, wie sehr ihn die Erinnerung schmerzt. »Da haben wir gelebt, bis ich zwölf war. Ich habe versucht, ihr zu erklären …« Er bringt den Satz nicht zu Ende.
    »Und als du zwölf warst, seid ihr wieder umgezogen?«
    »Wir mussten gehen, weil die Räume an Beamte vergeben wurden. Aber meine Tante beschaffte uns ein Zimmer in der Stadt.«
    »Was ist mit ihr passiert? Mit deiner Tante, meine ich.«
    Er seufzt tief. »Ich vermisse sie furchtbar. Schließlich hat sie uns all die Jahre über Wasser gehalten. Sonja ist an einer Lungenentzündung gestorben, vor zehn Jahren schon.«
    Nina fällt noch etwas ein. »Du hast doch gesagt, deine Mutter sei Lehrerin.«
    »Das hätte sie sein sollen. Oder Übersetzerin, wie meine Tante. Sie wurde von einer französischen Gouvernante aufgezogen und bekam Englischunterricht, sobald sie sprechen konnte. Aber sie …« Viktor macht eine vage Handbewegung, die wohl bedeuten soll, dass das jetzt keine Rolle mehr spielt. »Sie hat sich immer als Angehörige einer privilegierten Klasse angesehen, verstehst du, so wurde sie erzogen. Deshalb wollte sie, dass du sie so anredest. Das ist eben Teil ihrer Identität, selbst heute noch.«
    Nina bemüht sich, zu akzeptieren, was er sagt. »Ihr Kleid … Es ist …« Fast hätte sie »unansehnlich« gesagt, entscheidet sich dann aber für »abgetragen«.
    »Sie war bis zu ihrem vierzigsten Lebensjahr von Reichtümern umgeben«, sagt Viktor. »Wir können uns wahrscheinlich kaum vorstellen, was es bedeutet haben muss, das zu verlieren. Sie hatte ein völlig unbeschwertes Leben. Und als dann alles umverteilt wurde, da … Sie begreift einfach nicht, warum sich ihre Welt so verändert hat.« Erfasst nach Ninas Hand und umklammert sie fest. »Bitte hab Mitleid mit ihr. Sie hat es einfach nicht geschafft, sich an unser heutiges Leben zu gewöhnen.«
    »Du bist sehr nachsichtig mit ihr.« Als Nina bewusst wird, wie harsch das klingt, fügt sie hinzu: »Das ehrt dich.« Schließlich wird sie selbst bald mit dieser Frau zusammenleben.
    Aber zunächst werden sie und Ihre Exzellenz – oder Madame, wie Nina sie fortan nennen wird – einander in aller Form vorgestellt. Sie trägt

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