Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
Vom Netzwerk:
zwanzigsten Jahrhunderts bot. Man sah halb verhungerte, schwer arbeitende Insassen, dann kam ein Schwenk zu ein paar SS-Offizieren, und dann ein weiterer Schwenk, der den Blick auf … eine Silhouette freigab. Eine gräuliche, menschliche Silhouette, die sich zwar bewegte, aber dennoch so wenig identifizierbar war wie der ähnliche leere Fleck in der zweiten der drei Versionen des Forrester-Mordes, die wir gesehen hatten.
    »Okay«, sagte Max und betrachtete mein verdutztes Gesicht. »Jetzt kannst du Fragen stellen.«
    Ich holte tief Luft. »Dachau?«, fragte ich.
    »Bravo, Professor«, antwortete Max. »Ich hab vor einer halben Stunde entsprechende Bilder runtergeladen. Ist ziemlich gängiges Material. Bis auf unseren geheimnisvollen Gast dort.«
    Ich blickte weiter auf die Silhouette. »Irgendwas an diesem groben Umriss kommt mir bekannt vor«, sagte ich. »Da – wenn er sich umdreht und man ihn im Profil sieht.«
    »Okay. Dann kannst du mir vielleicht sagen, wie das mit ein paar Haaren von einem Kerl, der im Gefängnis sitzt, und einer Art Superkanone zusammenhängt, die John Price offenbar geräuschlos in Gelee verwandelt hat.«
    Es fiel mir schwer, den Blick von Max’ Computerbildschirm abzuwenden, auf dem immer wieder derselbe Filmschnipsel ablief. »Wie heißt der Kerl? Der im Gefängnis sitzt?«
    Max ging durch den Raum zu einem Tisch hinüber. »Kann ich dir sagen – hab mich in die Datenbanken der Strafvollzugsbehörden gehackt. Hier – Kuperman. Eli Kuperman.«
    Ich fuhr herum. »Eli Kuperman, der Anthropologe?«
    »Genau der. Kennst du ihn?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Doch ich kenne seine Arbeit. Umstritten, aber brillant. Die Ursprünge primitiver Kulturen.«
    »Dafür haben sie ihn drangekriegt. In Florida war er in einer indianischen Begräbnisstätte. Hat Tote ausgegraben. Behaupten zumindest die Leute, die das Reservat leiten. Kuperman hat es nicht abgestritten. Der Stamm war mit der vom Staat verhängten Strafe einverstanden – fünf Jahre im örtlichen Staatsgefängnis.« Auf Max’ Gesicht zeichnete sich noch größere Verwirrung ab, und seine Stimme wurde leiser. »Das Komische ist, am Tag, nachdem er in den Knast gewandert ist – erst letzte Woche –, haben die Indianer die ganze Begräbnisstätte zubetoniert. Von wegen heilig …«
    »Vielleicht wollten sie nicht, dass sie noch mal entweiht wird.«
    »Vielleicht«, sagte Max achselzuckend. »Der springende Punkt ist, was haben die Haare dieses Kuperman am Tatort unseres Mordes zu suchen?«
    »Bist du sicher, dass es seine sind?«
    Max zuckte erneut die Achseln. »Die universale DNA-Datenbank lügt nicht. Wenn er also keinen eineiigen Zwilling hat …«
    »Das meine ich ja.«
    »Was meinst du?«
    »Kuperman«, sagte ich, ohne Max seinen verwirrten Gesichtsausdruck so recht abzunehmen. »Er hat einen Zwillingsbruder.«
    Max schluckte schwer. »Du kannst mich mal, Wolfe.«
    »Nein, wirklich! Jonah Kuperman – er ist Archäologe und genauso berühmt wie sein Bruder.«
    »Also, das kam in keinem der Treffer vor, die ich gefunden habe.«
    »Meine Güte, Max«, sagte ich und ging zum DNA-Analysegerät zurück. »Das Internet enthält doch angeblich das gesamte menschliche Wissen – meinst du, die haben so was Grundlegendes übersehen?«
    »He, fang mir nicht wieder mit dem Internet an, Gideon, wenn da hin und wieder mal was in die Hose geht, heißt das nicht …«
    Auf einmal zersplitterte das Fenster mit der schönen Aussicht vor mir in Hunderte herumfliegender Scherben. Ich ging instinktiv zu Boden; doch als ich hochschaute, sah ich, dass Max – törichterweise, dachte ich in diesem Moment – noch stand. Ich schrie ihn an, er solle sich fallen lassen, aber er schwankte nur merkwürdig im matten Lichtschein seines Computers. Dann bemerkte ich einen Blutstropfen auf seiner Stirn; und als ich an ihm vorbeischaute, sah ich, dass sein Bildschirm mit etwas viel Lebenswichtigerem und Substantiellerem als Blut bespritzt war. Ich krabbelte wie ein jämmerlicher Krebs über den Boden, während er mit grimmiger Anmut auf die Knie sank. In dem Moment, als ich bei ihm war, fiel er nach vorn, und ich sah, dass das Geschoss, das so sauber in seine Stirn eingedrungen war, beim Austritt einen Großteil seines Gehirns und ein ordentliches Stück seines Schädels mitgenommen hatte.

6
    E rst zwei Tage später, als ich in einer schmutzigen, brechend vollen alten 767 von Washington nach Orlando flog, wurde mir mit voller Wucht bewusst, dass Max tot war.

Weitere Kostenlose Bücher