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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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verstanden.«
»Du hast von zwei Jahren gesprochen. Ein, zwei Jahre waren
deine Worte. Jetzt sind bald zwei Jahre um.«
»Im Oktober«, sagte er, »im Oktober sind zwei Jahre um.«
»Aber allmählich müßte sich doch die Entwicklung schon
abzeichnen. Wie steht es denn? Hat sich deine Finanzlage
verbessert?«
Er starrte unter sich, scharrte mit den Füßen im Kies herum.
Sie sah ihn an und bemerkte, daß er zuvor, als sie ihn von
Ferne beobachtet hatte, nicht einfach nur für den Moment einen
mürrischen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Die Kerben
zwischen Nase und Mundwinkeln hatten sich eingegraben. Da
waren Falten, die sich nicht glätteten, Linien, die sich durch
sein Gesicht zogen und es alt machten. Sie begriff, noch ehe er
antwortete, daß seine Sorgen nicht weniger geworden waren.
Sie hatten sich verschärft, raubten ihm nachts den Schlaf und
kosteten ihn am Tag den Seelenfrieden.
Als er ihr antwortete, klang seine Stimme nicht mehr zornig,
sondern müde. Unendlich müde wie die eines alten Mannes.
»Es ist schlimmer geworden«, sagte er leise, »es ist uferlos.
Ich habe Schulden ohne Ende. Wenn ich ein Loch zu stopfen
versuche, reiße ich an anderer Stelle eines auf. Und die
Abgründe werden immer tiefer. Ich weiß nicht, wohin das
steuert, ich weiß nur, daß ich die Kontrolle verloren habe.«
Diesmal zitterte seine Stimme; einen Moment glaubte
Nadine, er werde anfangen zu weinen. Er hatte sich jedoch
rasch wieder im Griff, nur die Mutlosigkeit und Verzweiflung
fielen nicht von ihm ab. Sie schienen längst Teil von ihm
geworden zu sein.
»Ich komme mir vor, als säße ich auf einem Karussell, das
sich wie rasend dreht, immer schneller und schneller. Ich
möchte abspringen, aber ich weiß nicht, wo ich landen werde,
und ob ich mir am Ende das Genick breche dabei. Also
verharre ich, wo ich bin, und mit jedem Tag wird meine Lage
aussichtsloser.«
Es drängte sie, nach seiner Hand zu greifen, ihm zu sagen, es
werde alles gut, aber er hatte seine Hände ineinander verkrallt
und sich halb von ihr abgewendet; ganz offensichtlich wollte er
keinerlei Berührung. Zudem wäre es eine Lüge gewesen, und
sie hätte sie mit nicht einem einzigen Argument untermauern
können. Ohne daß sie seine Finanzen kannte, kannte sie doch
ihn; er neigte nicht zu Hysterie oder Übertreibung. Wenn er
sagte, daß seine Lage aussichtslos war, dann war sie eher noch
schlimmer, als er sie schilderte.
»Am liebsten würde ich einfach verschwinden. Mit dir.
Irgendwohin, wo uns niemand kennt. Ein neues Leben, ganz
von vorn anfangen ... Eine zweite Chance ...«
Es war das erste Mal gewesen, daß er diese Möglichkeit
erwähnte, und Nadine hatte den Atem angehalten. Er schilderte
ihren Traum. Ein neues Leben ... ganz von vorne anfangen ...
eine zweite Chance ... Im Zusammenhang mit ihr hatte er so
etwas noch nie ausgesprochen, aber die Erkenntnis, daß nicht
sie, sondern lediglich seine Lebenssituation ihn zu derartigen
Überlegungen trieb, konnte sie damals noch verdrängen.
»Es gibt da noch ... eine Reserve«, sagte er, »etwa zweihunderttausend Mark. Auf einem Schweizer Bankkonto. Ich
konnte das Geld damals an der Steuer vorbeischleusen. Es
würde uns einen neuen Start ermöglichen.«
Im nächsten Moment brach sich jedoch wieder seine
Verzweiflung Bahn. »Aber wie soll ich das machen? Ich würde
Laura auf einem Schuldenberg sitzen lassen. Jahrelang würde
sie ja nicht einmal an die Lebensversicherung herankommen,
die ihr vielleicht aus dem Allergröbsten heraushelfen könnte.
Bis sie mich für tot erklären lassen könnte, würde eine ewige
Zeit vergehen. Und zu allem Überfluß kommt jetzt das Baby!
O Gott, Nadine«, endlich blickte er sie an, »ich könnte mich
doch nie wieder im Spiegel anschauen.« Sie wagte es, seine
Hände zu streicheln, und er ließ es zu. Blitzschnell hatte sie
sich eine Taktik überlegt, die einzige, die es für sie gab, die sie
vielleicht zum Erfolg führen würde: Sie schwenkte um in
diesem Moment. Sie bedrängte ihn nicht mehr. Sie zeigte
Mitgefühl und Verständnis. Sie wußte: Seine Schulden würden
schlimmer, seine Sorgen größer werden. Sein Leben würde wie
ein Kartenhaus zusammenstürzen. Die Gedanken an Flucht und
Neuanfang würden ihn, nun, da sie einmal gefaßt waren, nicht
mehr verlassen, sie würden immer gewichtiger, und im
gleichen Maß, in dem seine Verzweiflung wuchs, würden seine
Skrupel gegenüber Laura und dem Baby abnehmen. Er

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