Die Taeuschung
mußte
nur noch dichter mit dem Rücken an der Wand stehen. So
schwer es ihr fiel, sie mußte sich in Geduld fassen.
Es war eine Zitterpartie geworden, die schließlich
vollkommen über ihre Kraft ging und zeitweise sogar ihre
körperliche Gesundheit beeinträchtigte. Noch jetzt, an diesem
kühlen Morgen am Strand, konnte sie die Übelkeit spüren, die
sie ein Jahr lang Tag für Tag befallen hatte, die
Kopfschmerzen, den trockenen Mund, das wiederkehrende
Zittern ihrer Hände.
Das Kind war schuld, dachte sie, er fing an, das Kind mehr
zu lieben, als ich es voraussehen konnte.
Sie hatte sich immer an seine Worte geklammert, das Kind
sei ein Unfall gewesen, und bis heute war sie überzeugt, daß
diese Aussage zu den wenigen Wahrheiten gehört hatte, die er
ihr gegenüber ausgesprochen hatte. In seiner damals bereits
überaus brenzligen Situation konnte er sich nicht auch noch ein
Kind gewünscht haben. Aber dann war es da, ein süßes,
blondes Mädchen, kein Junge, den er ja schon hatte, sondern
eine bezaubernde Prinzessin, und sie besaß sofort einen Platz in
seinem Herzen. Nicht, daß er dies Nadine gegenüber so
formuliert hätte. Er hielt sich – in dieser Hinsicht mußte sie
ihm ein gewisses Taktgefühl zuerkennen – überhaupt mit
Berichten aus dem Kinderzimmer zurück. Aber was ihn betraf,
verfügte Nadine über feine Antennen, und die wenigen Male,
die er von Sophie sprach, konnte sie die besondere Wärme in
seiner Stimme wahrnehmen, die sich sonst nie zeigte. Seine
Skrupel, die Familie zu verlassen, wurden eher größer als
kleiner. Nie hätte sie ihn derart heftiger Schuldgefühle für fähig
gehalten.
Irgendwann hatte sie ihre Strategie der Zurückhaltung nicht
länger durchstehen können, da sie ins Nichts zu münden
schien, und seit Beginn dieses Jahres waren die Streitereien
wieder losgegangen – ihr Drängen, ihre Bitten, seine Wut –,
und dann war es zu dem furchtbaren Wochenende in Perouges
gekommen. Und schließlich, als sie schon jede Hoffnung
aufgegeben hatte, zu seiner Entscheidung.
Aber am Ende war sie die Verliererin, und vielleicht war
eine Geschichte, die sich von Anfang an so widerspenstig, so
widerwillig entwickelte, in sich zum Scheitern verurteilt. Sie
hatte etwas zu erzwingen versucht, was nicht hatte sein sollen,
und am Ende gab es einen Toten, eine Witwe, eine Halbwaise
und sie – eine Frau, die wieder einmal um all ihre Hoffnungen
und Sehnsüchte betrogen worden war.
Auf eigenen Füßen stehen, dachte sie vage – denn sie hatte
nicht die geringste Ahnung, wie das ging –, das wäre vielleicht
die einzige Chance, die ich hätte.
Ihr war kalt, aber nicht nur wegen des frischen Windes. Sie
fror tief in ihrem Inneren. Es war, als lebte sie, obwohl bereits
die Totenstarre einsetzte.
Am Ende dieses Prozesses würde sie vielleicht Schmerz und
Enttäuschung nicht mehr fühlen, auch nicht mehr Begierde und
Hoffnung. Sie würde einfach gar nichts mehr fühlen.
Vielleicht konnte auch dies eine Art innerer Frieden sein.
6
Monique war viel weiter gelaufen, als sie ursprünglich
vorgehabt, ja, als sie es sich überhaupt zugetraut hatte. Sie war
zunächst von ihrer Wohnung aus in westlicher Richtung bis
fast nach Les Lecques gewandert, war dort umgekehrt und
hatte, als sie wieder in La Madrague ankam, festgestellt, daß
sie noch keine Lust hatte, in ihre Wohnung zurückzukehren.
Also hatte sie den Klippenpfad in Angriff genommen, der bis
Toulon führte und dessen erste Meter sie von ihrem
Küchenfenster aus sehen konnte. Scharen von Wanderern hatte
sie über die Jahre kommen und gehen sehen, nie jedoch den
Wunsch verspürt, sich einmal selbst auf diesen Weg zu
machen. Es sollte herrliche Aussichtspunkte geben, aber auch
immer wieder steil bergab und bergauf gehen, und derlei
Anstrengungen hatte Monique nie geschätzt.
Natürlich war es tatsächlich anstrengend, auch an diesem
Morgen, der der Beginn eines neuen Lebensabschnitts sein
sollte, denn der gute Wille allein verbesserte noch nicht ihre
erbärmliche Kondition. Sie schnaufte bei den Steigungen wie
eine Dampflokomotive und mußte immer wieder stehen
bleiben, vornübergeneigt, eine Hand auf ihre schmerzende
rechte Seite gepreßt.
Aber sie fühlte sich gut. Sie genoß die herrliche Aussicht,
mehr noch aber die Herausforderung, die sie an ihren eigenen
Körper stellte. Die frische, kühle Luft war köstlich. Ihr Kopf
fühlte sich klar und frei.
Sport, dachte sie, ich werde
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