Die Taeuschung
haben,
der sich nun auflösen und sie mit einem erleichterten
Durchatmen in die Wirklichkeit zurückkehren lassen würde,
aber schon im nächsten Moment arbeitete ihr Verstand wieder
ganz klar, und die Erkenntnis, daß das Entsetzen andauerte, traf
sie mit solcher Härte, daß sie leise wimmerte. Sie war
verschleppt worden. Sie befand sich im Keller eines fremden
Hauses. Um sie herum herrschte völlige Dunkelheit. Und eisige
Kälte. Sie konnte nichts sehen, hatte die Größe des Raumes nur
durch Ertasten herausgefunden. Ihr Zeitgefühl hatte sich völlig
verwirrt, sie wußte nicht, ob es mitten in der Nacht war oder
der nächste Morgen oder schon der Nachmittag des nächsten
Tages. Sie hatte Hunger, aber noch schlimmer quälte sie
brennender Durst. Der Mann, der sie gefangen hielt, war der
Mörder von Camille und Bernadette Raymond.
Sie hatte Camille und Bernadette gefunden, hatte gesehen,
was er ihnen angetan hatte. Bis heute roch sie den Gestank der
verwesenden Körper. Als ihr – noch ehe sie eingeschlafen war
– die Bilder der toten Frau und des toten Kindes wieder ins
Bewußtsein gekommen waren und sie sich zum erstenmal
klargemacht hatte, daß es der Mörder war, der sie in seiner
Gewalt hatte, mußte sie sich übergeben. Da sie den ganzen Tag
über nichts gegessen hatte, spuckte sie nur ein wenig Galle,
aber sie würgte und kämpfte minutenlang, überwältigt von
ihrem Entsetzen und ihrer Angst. Dann versuchte sie ruhig zu
werden, bemühte sich, ihren Verstand einzuschalten. Er hätte
sie gleich töten können, schon in ihrer Wohnung. Er hatte es
nicht getan, hatte sie statt dessen mit Fragen bestürmt. Woher
hatte sie die Telefonnummer? Offenbar vermutete er einen
weiteren Mitwisser.
Solange ich ihm den Namen nicht nenne, wird er mich nicht
töten. Er braucht mich lebend. Er muß wissen, ob es da noch
jemanden gibt, der Bescheid weiß oder die Polizei zumindest
auf seine Spur bringen kann.
Sie krallte sich an dieser Hoffnung fest, die aber zugleich
den Weg frei machte für eine neue Angst: Was würde er sich
einfallen lassen, um sie zum Reden zu bringen? Er war
wahnsinnig, und er war skrupellos. Wieviel Schmerzen konnte
sie ertragen?
Sie durfte den Namen ihrer Informantin nicht nennen. Nicht
nur, um diese zu schützen: Sie hätte, davon war sie überzeugt,
im selben Moment ihr eigenes Todesurteil unterschrieben.
In ihrer Not hatte sie sich am Abend, nicht lange nachdem er
sie in den Kellerraum gestoßen hatte und verschwunden war, in
einer Ecke ihres Gefängnisses erleichtert; zuvor war sie
zitternd und weinend herumgekrochen und hatte gesucht, ob er
ihr irgendwo einen Eimer hingestellt hatte. Sie war an ein
Regal gestoßen, offenbar aus rohen Holzlatten gezimmert und
darauf schienen sich Gläser und Konserven zu befinden, aber
ansonsten gab es in dem Raum, den sie auf drei mal drei Meter
schätzte, nichts, absolut nichts. Keine Liege, keine Decke,
keine Wasserflaschen, nichts. Und schon überhaupt nichts, was
sie als Toilette hätte benutzen können.
Sie versuchte sich die Ecke zu merken, damit sie dort immer
hingehen konnte und ihre Exkremente nicht über den ganzen
Boden verteilen mußte, aber schon jetzt, nachdem sie
geschlafen hatte, fühlte sie sich vollkommen orientierungslos.
Sie fror entsetzlich, es ging eine Eiseskälte von dem
Zementfußboden aus. Sie durfte nicht soviel liegen, sonst
würde sie ziemlich bald eine Nierenentzündung bekommen,
und wie sie ihn einschätzte, würden ihn Schmerzen und
Krankheit bei ihr nicht kümmern. Vielleicht kümmerte ihn
überhaupt nichts mehr. Einen entsetzlichen Moment lang
dachte sie, er hätte vor, sie in diesem Keller verrecken zu
lassen, einfach nicht mehr zu erscheinen, sie Hunger, Durst,
Kälte und einem qualvollen Sterben zu überlassen. Dann
versuchte sie sich wieder Mut zu machen:
Er will eine Information von mir. Er hat keine Chance mehr,
etwas herauszufinden, wenn ich erst tot bin.
Wahrscheinlich war das, was sie hier durchlitt, bereits die
Folter. Er wollte sie weichkochen. Er ließ sie hungern und
frieren und trieb sie fast zum Wahnsinn in der
undurchdringlichen Finsternis, damit sie ihr Schweigen brach.
Er würde sie natürlich nicht wirklich sterben lassen.
Aber konnte er sie am Leben lassen? Er hatte nichts getan,
um von ihr nicht wiedererkannt zu werden. Sie hatten einen
ganzen Nachmittag Auge in Auge in ihrem Wohnzimmer
verbracht, sie kannte sein Gesicht, würde ihn
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