Die Taeuschung
verbliebener Kraft.
»O Gott, Mutter«, sagte sie, und die Tränen schossen ihr aus
den Augen genau wie bei ihrem letzten Besuch, und wenn
Marie für einen Moment gedacht hatte, es seien Tränen der
Rührung oder der Erleichterung, so begriff sie ihren Irrtum sehr
rasch: Nie vorher hatte sie einen Menschen so verzweifelt und
untröstlich weinen sehen, und nicht einmal bei sich selbst hatte
sie es erlebt; dabei hatte sie sicher mehr Zeit ihres Lebens in
Tränen aufgelöst verbracht als in irgendeinem anderen
Zustand. Sie fragte sich, was sie falsch gemacht hatte, jetzt und
während Nadines Jugend, und wie meist gelangte sie zu dem
Schluß, daß alles in irgendeiner Weise Michels Schuld war.
Verbittert starrte sie in ihre Kaffeetasse und lauschte dem
Schmerz ihrer Tochter, von dem sie ahnte, daß sie nichts würde
tun können, ihn zu lindern.
3
Sie begann zwiespältige Gefühle der Bedrängung und der
Schuld zu entwickeln, und diese Mischung erwies sich als
überaus anstrengend und kompliziert. Christopher hatte am
Vorabend angerufen und sie zum Abendessen einladen wollen,
aber in ihr war ein so starkes Bedürfnis nach Alleinsein
gewesen, daß sie behauptet hatte, sie sei schon dabei, etwas für
sich zu kochen.
»Dann mach eine doppelte Portion«, hatte er vergnügt
entgegnet, »ich bin in einer Viertelstunde bei dir. Ich werde
einen besonders schönen Rotwein für uns mitbringen.«
»Nein, bitte nicht«, hatte sie hastig und wohl auch mit einer
gewissen Schärfe in der Stimme geantwortet, denn in dem
darauf folgenden Schweigen erkannte sie Betroffenheit und
Verletztheit – sogar durchs Telefon.
So vorsichtig wie möglich hatte sie hinzugefügt: »Es hat
nichts mit dir zu tun, Christopher. Ich brauche einfach Zeit für
mich. Es ist so viel passiert ... ich denke intensiv nach und
beschäftige mich mit mir und einigen Dingen aus meiner
Vergangenheit. Es tut mir leid.«
Wie immer war er verständnisvoll und mitfühlend gewesen,
ohne sich jedoch so einfach abschieben zu lassen. »Natürlich,
Laura, das kann ich verstehen. Deine ganze Welt ist
durcheinandergewirbelt worden, und du mußt dich erst
langsam wieder in deinem Leben zurechtfinden. Trotzdem, es
ist nicht gut, zuviel zu grübeln, und es ist auch nicht gut, sich
zu verkriechen. Irgendwann laufen die Gedanken nur noch im
Kreis, und manche Dinge nehmen Dimensionen an, die ihnen
gar nicht zukommen. Dann ist es besser, sich mit einem Freund
auszutauschen.«
Sie wußte, daß er recht hatte mit seinen Worten, wußte aber
zugleich, daß auch sie im Recht war mit ihrem Bedürfnis, für
sich zu sein, und sie fühlte sich undankbar, weil sie nicht
glücklich war, Freundschaft angeboten zu bekommen, sondern
statt dessen ärgerlich wurde, weil er insistierte, anstatt ihr Nein
einfach zu akzeptieren.
Wahrscheinlich hätte ich gar keine Erklärung abgeben
dürfen, dachte sie später, das ist grundsätzlich falsch im
Gespräch mit einem Mann. Für Männer ist eine Erklärung
gleichbedeutend mit einer Rechtfertigung, und Rechtfertigung
heißt für sie Schwäche. Und da haken sie ein.
Damit war sie wieder bei den Fehlern angelangt, die sie bei
Peter gemacht hatte, und das war ein so weites Feld, daß sie
dann den Rest des Abends mit Grübeleien darüber verbrachte.
Jetzt, am nächsten Morgen, hatte sie zumindest das Gefühl,
ein Stück weitergekommen zu sein. Sie wollte sich und ihre
Ehe mit Peter nicht bis in alle Ewigkeit hinein analysieren, aber
sie wollte in ein paar wesentlichen Punkten Klarheit gewinnen,
und sie hatte zudem den Eindruck, daß ihr dieser Prozeß half,
mit dem Erlebten fertigzuwerden.
Sie hatte in aller Frühe einen Spaziergang durch die Felder
gemacht, hatte die aufgehende Sonne und die klare, kühle Luft
genossen. Wieder daheim, machte sie sich einen Tee, trank ihn
im Stehen auf der Veranda, während sie über das Meer schaute
und den tiefen Frieden genoß, den dieser Blick in ihr auslöste
und der ihr bewies, daß sie irgendwann gesund werden und ein
neues Leben beginnen würde.
Schließlich dachte sie, daß sie Christopher anrufen müßte,
aber der Gedanke war ihr unangenehm, und sie zögerte den
Weg zum Telefon hinaus. Als der Apparat plötzlich schrillte,
schrak sie heftig zusammen, aber dann sagte sie sich, daß es
auch Monique Lafond sein könnte. Am Samstag hatte sie ihr
den Zettel mit der Bitte um Rückruf an die Wohnungstür
gehängt, und falls sie nicht verreist war, hätte sie
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